Wie geht Glaube von einer Generation auf die nächste über – institutionell und individuell? Wann wird die lebendige Wucht des Evangeliums weitergegeben, und wann ist es nur noch ein Phantomschmerz?

Sind Archäologen nicht manchmal verzweifelte Phantasten? Anrührende Kustoden sind sie, graubärtig grübelnd, inmitten der Bruchstücke einer fremden Erinnerung. Sooft ein Ausgrabungsteam in einem Dschungel die Ruinen einer alten Tempelanlage mühevoll freilegt, stehen die Archäologen vor der Herausforderung, anhand von moosig zernagten Steinen die Geschichte einer Zivilisation zu erzählen, die nicht mehr ist – und die niemand vermisst.

Nirgends finden sie zwischen all diesen Ruinen wenigstens ein beschriebenes Palmblatt oder geräucherte Bananenbaumblätter, worauf die Formel eines Gebets, die Sequenzen einer Zeremonie notiert sind – oder die Krümmung eines Rauchzeichens aufgemalt ist. Welche Tänze machten sie in großen Gesellschaften? In welchen Tonlagen und mit welchen Worten flüsterten sie zu ihren Gottheiten, wenn ein Schmerz in ihren Seelen war? Nichts ist überliefert.

Überlieferung meint nicht die passive Schwere einer Erbschaft, noch das Residuum einer alten Gewohnheit, die blasse Färbung eines Dialekts: Sie ist eine aktive, bewusste Weitergabe. Sie ist die Aufgabe, nicht nur Kenntnis und Fähigkeit in anderen heranzubilden, sondern auch die Autorität des Überlieferten abzugeben. Gleichzeitig ist die Überlieferung von religiösen Ritualen kaum mit einer Staffelübergabe vergleichbar. Überlieferung ist mehr als eine Kommunikation. Sie schließt nämlich auch ein, die Brüche zu kitten, die unvermeidbaren Risse zu flicken, die Dissonanzen aufzulösen, die jede Generation heraufbeschwört. Mehr noch: Überlieferung verlangt die Weitergabe auch vom Geist des Ursprungs und der Begründung.

Die Häresie der Geistlosigkeit

Im Hinblick auf das Evangelium heißt Überlieferung ebenso sehr Anteilnahme an der primären Offenbarung, wie Geschautes, Gehörtes, Bezeugtes an- und zu übernehmen. Die kirchliche Tradition ist sowohl eine Technologie der Weitergabe von institutioneller Religion, die Inspiration an gelebter Religiosität als auch – und noch wichtiger – anhaltende Thaumaturgie, das bedeutet: die mirakulöse, wunderbare Lust, mitzuzündeln. Ein bisschen darwinistisch zugespitzt: Manche Traditionen bestehen, weil sie es nötiger haben als andere.

Wie oft erschöpft sich Überlieferung in der stolzen Revue des Geleisteten und Erreichten – der Vergabe von Ehrenamtsnadeln und den würdevoll begangenen Jubiläen?

Wie oft jedoch ist Überlieferung in vielen Diözesen praktisch nicht mehr als die Benennung eines etwas weniger senilen Mitglieds in einem pastoralen Gremium? Die Frage hier ist doch: Ist das noch lebendige Überlieferung oder das Verebben einer Gewohnheit? "Aber wir brauchen doch diese Strukturen"´, wird oft eingewandt von amtskirchlichen Stellen.

Wie oft erschöpft sich Überlieferung in der stolzen Revue des Geleisteten und Erreichten – der Vergabe von Ehrenamtsnadeln und den würdevoll begangenen Jubiläen? Ich weiß nicht, wie es anderen geht, aber ich gewinne immer mehr den Eindruck, dass in den Diözesen an entscheidenden Stellen eine nicht eingestandene Stimmung um sich greift, dass der Zenit überschritten ist.

Es fehlt im deutschsprachigen Raum am Willen zum frischen Wurf, an einer die religiöse Imagination und Sehnsucht nicht nur ansprechende, sondern beseelende Erzählung dessen, was katholisches Christentum ist und in welche Herrlichkeit sie schaut. Stattdessen begnügt man sich allzu oft damit, in der lokalen Führungsriege aus Politik, Wirtschaft und säkularen Institutionen "durchaus geschätzt" zu sein.

Tradition lebt oder sie zerfällt. Wenn sie lediglich schwelt oder dümpelt oder besteht, ist sie schon historisch. Man erinnere sich daran: Es gibt nicht nur die Häresie der Formlosigkeit, sondern – gravierender und unverzeihlicher – ist die Häresie der Geistlosigkeit. 

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