Der Ordenspriester Heinrich Seuse (1297–1366) misstraute jeglichem Geschwätz. Sparsam war der schwäbische Dominikaner mit Worten trotzdem nicht. Unter den Mystikern, diesen honigmündigen Avantgardisten seliger Beredsamkeit, verwendet der Ulmer Mönch den größten Wortschatz. Nirgends sonst findet man so viele diffizile Adjektive, mehr i-tüpfelnde Adverbien, hübscher gebeugte Verben oder prägnantere Substantive.
Mehr noch als von der Vielzahl der Worte ist Heinrich Seuse jedoch von der sinnlichen Vielgestaltigkeit der Worte beseelt. Heißt es doch irgendwo in seinem Werk, zu dem Lehrstücke ebenso gehören wie ins Phantastische überschwappende, novellistisch anmutende Passagen der inspirierten Gottesschau:
"Genauso wie es keinen Vergleich gibt zwischen dem tatsächlichen Hören der süß gezupften Harfensaiten und dem Zuhören, wie jemand darüber spricht, so gibt es auch keinen Vergleich zwischen Worten, die in reiner Gnade empfangen werden, aus einem lebendigen Herzen kommen und von lebendigen Lippen gesprochen werden, und denselben Worten, die auf trockenes Pergament gebannt sind."
Seuse lebte vor dem Buchdruck. Auch die Herstellung von Papier war noch in den Kinderschuhen. Für die Herstellung einer Bibel auf Tierhaut führte man daher noch leicht eine Herde Kühe zur Schlachtbank. Es gab keine Telefone und keine Aufnahmegeräte: Worte waren an Stimme und Antlitz, an die Hörweite der Verkündigung gebunden. Schreiben war wegen der Tinte, dem Rötelstein, dem Grafit und der Kreide eine schmutzige Angelegenheit. Doch, wie das Zitat zeigt: Selbst in der winzigen Gemeinde von Schreibenden ist man sich der Gefahr bewusst, dass geschriebene Worte leicht erkalten, austrocknen, unverständlich werden können.
Das Wort ist Fleisch geworden
Und doch begründet für Heinrich Seuse die Fleischwerdung des Wortes sein Leben. Wie es im Johannesevangelium heißt: "Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt, und wir haben seine Herrlichkeit gesehen, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit." Es ist eine einfache Grundwahrheit des Christentums, die auch das Angelusgebet täglich in den Raum stellt.
Worte sind nicht Schall und Rauch, sondern sinnliche Offenbarungsgestalten, Charaktere. Das heißt, sie nicht wörtlich begreifen, sondern sie sinnlich einzuholen, ihnen imaginativ nachzuspüren. Mehr Genuss- als Kommunikationsmittel. In den Augen Heinrich Seuses schafft jedes Wort und Wörtchen eine greifbare Realität, selbst Archaismen, Fremd- und Lehnworte, aber auch Abstraktionen, Neologismen und Blendworte (wie Chillaxen, Glamping, Funtastisch) taugen dazu. Aus diesem Grund wird ihm selbst der Akt des Schreibens mit Griffel und Linienmesser sowie der Akt des Lesens mit Digitus und Lesestein zu einer veritablen Erfahrung. Buchstaben sind ihm die Zähne eines Schlüssels, Prägegestalten, die ihm Wahrheit und Gegenüber Gottes aufschließen.
Er ist von dieser Einsicht besessen. Seuse tätowiert sich selbst die ersten Buchstaben des Inkarnierten auf die Brust: IHS. Das Kürzel verknappt den ausgeschriebenen Namen Jesu auf die ersten drei griechischen Lettern Iota, Eta, Sigma. IHS wird oft im Sinne eines Akrostichons theologisch überformt: Iesus Hominum Salvator (Jesus, der Retter der Menschen). Seuse zeichnet sich buchstäblich aus.
Überall in den von dem Dominikanermönch hinterlassenen Handschriften, die heute unter anderem in der National- und Universitätsbibliothek Straßburg aufbewahrt sind, sieht man die Abbreviation IHS blutend, sozusagen als blutendes Ornament, in den Satzspiegel hineingesetzt. Eine Erinnerung daran, dass Worte eine Wirklichkeit ausdrücklich machen, sie mehr greifbar als begreifbar werden lässt.