Was verpassen die Essenzialisten unter uns? Sie wissen schon, wen ich meine, diese Typen – meistens sind es Typen, – die unaufhörlich vom "Kern der Sache" wissen. Es sind jene Zeitgenossen die vom Wesen, von Hauptmerkmalen reden, die in ihren Ausführungen stets irgendetwas "herausschälen", damit vom Gesamtphänomen jegliche Wirrnis und Unfassbarkeit fortgenommen sei und bloß ein kleiner kontrollierbarer Kern, eine zentrale Essenz – geruchsneutral und nichts aussagend.
Von Fratzen und Schatten
Um Fratzen und Visagen in Kürbisse einzuschnitzen, ist – zumeist in protestantischen Haushalten – nur das Tranchiermesser zulässig. Andere öffnen die Lade und nehmen das erste Besteck mit Klinge heraus. Angeblich verwenden manche auch einen Käsehobel, um die harte Rinde des Kürbisses etwas heller und weicher erscheinen zu lassen. Auch das Auslöffeln bzw. Ausschaufeln des Fruchtfleisches sollte bei Puristen mit bloßen Händen geschehen, nachdem man den Sweater bis über die Armbeuge gekrempelt hat. Doch manche Kürbisse wirken in ihrem Fruchtfleisch krautiger als andere, sodass auch Scheren, Dönermesser und Barbierklingen zum Einsatz kommen könnten.
Die Kürbiskerne sind auszulösen und sorgfältig auf einem Backpapier auszubreiten, damit sie später im Ofen zwischen groben Salzkörnern rösten können. Andere lackieren die Kerne mit Nagellack – don't ask – oder werfen sie einfach weg. Toasten und backen jedoch dominiert: Die Kürbiskerne für das dritte oder vierte Blech darf man mit Zimt übertüpfeln, um dem Interieur dieses Maskenballs ein wohlduftendes, herbstlich warmes Volumen zu schenken.
Das Tranchiermesser wird nun schon mal für Thanksgiving und Heiligabend aufgewärmt. Sollte jemand auf den Gedanken kommen, aus den Non-Food-Abteilungen des Supermarkts ein "professionelles Kürbisschnitz-Set" zu kaufen, um vielleicht die eigene Unfähigkeit in Raffinesse zu verwandeln: bitte nicht! Desgleichen gilt für Ausstechformen, die bitte bis zum Advent verpackt bleiben. Andererseits ist es verlockend, mit ambitionierten Werkzeugen zu arbeiten. Auch die Improvisation mit einem gezackten Schabbat-Messer erzielt großartige Ergebnisse. Das heißt: Wer immer also glaubt, achtzehnteilige Sammlungen an Schnitzwerkzeugen aus rostfreiem Edelstahl und orangefarbenen Griffen bei Temu bestellen zu müssen: get a life!
Pumpkin Magica
Die Hausaufgabenmacher in der Familie oder der Runde entlarven sich selbst, indem sie mit Filzstift oder Crayon auf der als "am flachsten" erkorenen Sichtseite des Pumpkins die Grimasse vorzeichnen. Naturgemäß sind ihre Ergebnisse besser, doch wirken sie im ganzen Vorgang stets ein bisschen zwanghaft. Auch hier: get a life! Die leuchtende Grimasse des Kürbisses ist ein ephemereres Monument menschlicher Geschicklichkeit – daher: locker bleiben. Auch sollte man davon absehen, diese orangefarbene Plastik mit kleinen grünen Hokkaidos zu umzingeln, die etwas hartnäckig und unbeschnitten, gegebenenfalls zwischen Laubgirlanden eine Art Landschaft andeuten möchten. Das Pumpkin-Gesicht ist zwar kein Solitär, aber Kulissen machen ihn nervös.
Es ist notwendig, dass im Hintergrund – gedimmt, aber bis in die Songtexte hörbar – eine Allerweltsplaylist spielt. Schließlich ist das Ziel dieses Gesellschaftsereignisses en miniature eine Serie an Laternen aus organischem Material herzustellen, darin zwei bis drei Teelichter dahinzüngeln dürften, bis die Wände des ausgehöhlten Kürbisses eingesunken sind und leicht Schimmel angesetzt haben. Es ist selbstredend, dass eher das Grablicht der Großmutter auf dem Friedhof für einige Tage erlischt, als dass die Kerzen in den Pumpkins auf dem Fenstersims oder auf der Veranda ausgehen. Wer darüber wacht, diese Ämter sind nicht so eindeutig vergeben.
Nachdem die Pumpkingrimassen irgendwo im Raum innerlich erleuchtet, ihre Schatten werfen, stellt man die rösteten Kürbiskerne in einer Schale auf den Tisch – zuerst die salzigen, danach die süßen. Man isst einen Kürbiskern, vielleicht einen zweiten. Aber das ist nicht Kern der Sache.