Mühsamer Aufstieg, spektakuläre AussichtDarum lohnt es sich, auch langweilige Bücher zu lesen

Ausdauer wird belohnt. Das gilt auch fürs Lesen.

Johannes Hartl
© Rudi Töws

Das Lesen langweiliger Bücher ist eine in der Literatur der Askese unterbelichtete Disziplin. Fasten, Wallfahrten, ja Nachtwachen werden gepriesen als Einübung in den geistlichen Kampf. Die säkulareren Formen Eisbaden, Marathonlaufen und Intervallfasten erfreuen sich auch in postreligiösen Zeiten großer Beliebtheit.

Greift er zu Werken der klassischen Literatur oder gar der Philosophie, so sieht sich der moderne Leser zwei merklichen Herausforderungen ausgesetzt: Diese Bücher sind oft wirklich langweilig und fordern gedankliche Konzentration. Vergleicht man damit Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt, ist der Unterschied wirklich frappierend. Auch Sachbücher, etwa historische, psychologische oder Ratgeber, sind seitenweise voll mit Anekdoten und Geschichten. Für eine konkrete Aussage vier Seiten Beispiele. Bei Romanen ein schneller Spannungsbogen, kurze Sätze, viele Dialoge und noch mehr Erotik. Wer solches gewohnt ist, wird bei Thomas Manns "Joseph" bereits auf der ersten Seite aufgeben, denn die ganze Seite besteht praktisch nur aus einem einzigen langen Satz, der noch dazu über die Geheimnisse der Unvordenkbarkeit der Vergangenheit nachsinnt. Oder Tolstois "Krieg und Frieden", das, wäre es mit seinen fast 2000 Seiten nicht schon vom Umfang her abschreckend genug, gleich auf den ersten Seiten fast zur Hälfte aus französischen Dialogen besteht.

Der Verfasser hat sich dem zweifelhaften Vorhaben verschrieben, möglichst viele große Werke der Philosophiegeschichte zu lesen. Er hat von Leseerfahrungen zu berichten, die eine Auseinandersetzung mit dem Thema "Durchhalten trotz Langeweile" nahelegen. Natürlich ist Hegels "Phänomenologie des Geistes" wirklich faszinierend und Foucaults "Archäologie des Wissens" sicher ein Schlüsseltext der modernen Philosophie, doch beides ist streckenweise auch unfassbar langweilig zu lesen. Davor kann man entweder zurückschrecken, die besondere Qualität als abendliche Lektüre zum Einschlafen nutzen, oder es als intellektuelle Askese sportlich nehmen. Wer Letzteres tut, wird belohnt.

Zunächst enthalten auch langweilige Bücher wichtige Gedanken. Viele Bücher sind des Weiteren auch nur auf den ersten Blick langweilig und entwickeln geradezu eine Sogwirkung, wenn man sich ein wenig eingelesen hat. Auf alle hier erwähnten Werke trifft das auch zu. Es gibt Perlen, die einem schlicht entgehen, wenn man auf jeder Seite etwas Spannendes oder sofort Einleuchtendes erwartet. Der mühsame Aufstieg durch Geröll wird nicht selten durch einen spektakulären Ausblick vom Gipfel belohnt.

Lesen lehrt, nicht vorschnell zu urteilen

Der Geist lernt aber auch vieles durch den Prozess des Lesens selbst. Es gibt eine Lesekompetenz, die tatsächlich durch kantigere Lektüre erworben wird und die auch nach und nach wachsen kann. Diese Kompetenz ist nicht auf den Umgang mit Texten begrenzt. Von der "Lesbarkeit der Welt" handelt ein Buch des deutschen Philosophen Hans Blumenberg. Tatsächlich ist ja auch vieles an der Welt komplex, nicht auf den ersten Blick ersichtlich, verwirrend. Die Versuchung, vorschnell zu urteilen, mit dem Wahrnehmen aufzuhören, wenn es zu langweilig wird: ist sie nicht die Grundlage unfassbar vielen Übels in der Welt?

"Where is the wisdom we have lost in knowledge? Where is the knowledge we have lost in information?"

Freilich – auch das Lesen langweiliger Bücher ist nicht die Erlösung des Menschen. Wer von dieser etwas erfahren möchte, der sollte die Bibel lesen. Doch auch das tun gläubige Menschen kaum. Im Theologiestudium stellte ein Professor für Altes Testament meinem Semester die Frage, wer die Bibel schon einmal durchgelesen habe. Es gab im ganzen Hörsaal kaum eine Hand, die sich hob. Und es ist verständlich: auch die Bibel ist streckenweise ganz schön langweilig zu lesen. Doch was verlieren wir, wenn wir den tiefen, konzentrierten Blick auf Texte verlieren? Viel mehr als nur "Wissen"; bloße Informationen kann ChatGPT ohnehin viel schneller sammeln. Es geht um nichts weniger als das, was T. S Eliot schon vor fast 100 Jahren meinte: "Where is the wisdom we have lost in knowledge? Where is the knowledge we have lost in information?"

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