Knigge ist zeitlosWarum wir auch heute klassische Benimmregeln brauchen

Eine Einübung in den guten Umgang mit Menschen – Menschen in all ihren Eigenheiten – ist heute vielleicht wichtiger als je zuvor.

Johannes Hartl
© Rudi Töws

Wer bei dem Wort "Knigge" an altmodische Konventionen und steife Etikette denkt, wird durch die Herkunft des Begriffs eines Besseren belehrt. Das 1782 erschienene namengebende Werk des Adolph Freiherrn von Knigge enthält nämlich erstaunlich wenig Konkretes über Tischmanieren oder höfliche Anreden. Es trägt den Titel "Vom Umgang mit Menschen" und hat genau das zum wesentlichen Inhalt: wie man sich als Mensch anderen Menschen gegenüber verhalten soll.

Erstaunlich ist dabei die wertungsfreie Herangehensweise. Es gibt nun einmal, so schreibt Knigge, mürrische oder aufbrausende Menschen. Wie ist mit ihnen umzugehen? Wie verhält man sich Kindern gegenüber? Knigge reflektiert sein Vorgehen nicht tiefer philosophisch, doch banal ist es nicht. Es geht davon aus, dass das korrekte Verhalten sich aus der Orientierung an der Situation ergibt. Es geht also um grundsätzliche Haltungen wie Respekt, Verbindlichkeit, Freundlichkeit, die sich in je verschiedenen Situationen unterschiedlich ausprägen. Aus dieser Beobachtung wird ersichtlich, dass es bei gepflegten Umgangsformen um viel mehr geht als um den Versuch, gesellschaftlich passabel aufzutreten. Die Frage, wie man mit Menschen umgehen soll, ist eine ethische.

Was Knigge intuitiv voraussetzt, wurde in der philosophischen Diskussion von der englischen Philosophin Iris Murdoch vertieft, die zweifelsfrei zu den interessantesten weiblichen Philosophen des 20. Jahrhunderts zählt. Im Oxford der Fünfzigerjahre herrscht die analytische Philosophie. Als Grundlage der Ethik kommen keine absoluten metaphysischen Güter mehr infrage, auch keine verbindlichen Tugenden wie noch bei Aristoteles. Ethik ist entweder nur ein Geschmacksurteil oder an einem Nutzen orientiertes angelerntes Verhalten. In ihrem vor Kurzem bei Suhrkamp auf Deutsch erschienenen Buch "Die Souveränität des Guten" verteidigt sie die kühne These, das Gute würde sich irgendwie immer an der Wahrheit orientieren. Ihre Argumentation fußt nun aber nicht auf ein kompliziertes metaphysisches System, sondern setzt an einer Alltagssituation an. Man stelle sich eine Schwiegermutter vor, die ihre Mühe mit einer Schwiegertochter hat. Das Verhältnis ist verfahren. Nun könnte die Schwiegermutter sich dabei ertappen, gewisse Vorurteile gegen die Schwiegertochter entwickelt zu haben. Vielleicht bemerkt sie, dass – so würde man heute modern sagen – ihr Verhalten etwas in ihr "triggert". Vom Wunsch beseelt, die Beziehung zu verbessern, könnte die Schwiegermutter versuchen, die Frau ihres Sohnes bewusst ohne Scheuklappen zu sehen – so, wie sie wirklich ist. Tatsächlich könnte das der Anfang eines veränderten Verhaltens sein.

Innere Haltung, äußere Formen

Dass die gute Handlung die ist, die der Wirklichkeit gerecht wird, steht bei Robert Spaemann. Nun könnte genau das aber doch zum Argument gegen Anstandsregeln à la Knigge angeführt werden. Ist die innere Haltung nicht viel wichtiger als äußere Formen?

Das Problem ist, dass wir im Alltag ständig Menschen begegnen, die wir nicht gut kennen. Es ist überhaupt nicht möglich, sich in jeder Situation perfekt darauf einzuschwingen, wer mein Gegenüber von sich heraus zutiefst ist und was er erwartet. Deshalb sind gewisse verinnerlichte Formen unerlässlich. Haltungen, die sich nicht in konkrete Verhaltensweisen übersetzen lassen und daran sichtbar werden, sind nutzlos.

Im intimen Bereich enger Freundschaften und der Familie wird "Knigge" niemals ausreichen. Hier führt die innere Entschiedenheit weiter, den anderen Menschen als den zu sehen, der er wirklich ist. Für alle anderen Fälle jedoch könnten klassische Benimmregeln nicht zeitloser sein. Viel ist schon geschrieben worden über das Zeitalter des Narzissmus, über die Kultur der Selbstdarstellung, über die Fragmentierung der Gesellschaft. Knigge wird die Welt nicht retten. Doch eine Einübung in den guten Umgang mit Menschen – Menschen in all ihren Eigenheiten – ist heute vielleicht wichtiger als je zuvor. Und wenn es mit so (scheinbar!) banalen Dingen wie Tischmanieren beginnt.

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