Im Denken ist der Mensch seiner geschichtlichen Entwicklung oft weit voraus. Wer heute liest, was Edmund Husserl und die von ihm inspirierten Denker vor gut 100 Jahren schrieben, kann direkt an die aktuelle Diskussion um Chancen und Grenzen der "Künstlichen Intelligenz" anschließen.
"Intelligenz" in Anführungszeichen: denn die ganze Debatte beginnt bereits mit der Verwechslung zweier Größen, die in Wahrheit wenig miteinander zu tun haben. "Zurück zu den Dingen" war ein Motto der Phänomenologen; die Dinge freilich liegen uns nicht als frei schwebende Brocken vor, sondern sind uns bereits als Gegenstände von Erfahrungen erschlossen. Als Phänomene eben.
Das menschliche Bewusstsein ist kein freischwebender Ich-Punkt, der erst irgendwie zu den Dingen kommen muss. Es findet sich selbst immer schon vor im Kontakt mit Phänomenen.
Ob Husserls selbst, seine Assistentin Edith Stein, seine Schüler Scheler und Merleau-Ponty oder spätere Gefolgsleute wie Lévinas: Sie alle eint der Abschied von einer Vorstellung des menschlichen Geistes als weißes Papier, auf das Sinnesdaten einen Abdruck hinterlassen.
Das menschliche Bewusstsein ist auch kein freischwebender Ich-Punkt, der erst irgendwie zu den Dingen kommen muss. Es findet sich selbst immer schon vor im Kontakt mit Phänomenen.
Dieser Kontakt ist durchaus wörtlich zu verstehen: weil wir einen Leib haben, der berühren und berührt werden kann, ist uns Welt immer leibhaft erschlossen. Wir sehen nicht den ganzen Stuhl gleichzeitig, sondern nur die uns zugewandte Seite. Wir müssen um ihn herumgehen, um ihn von hinten zu sehen. Wir erleben den Raum, weil wir selbst räumliche Wesen sind. Wir erleben Zeit, weil unser Körper müde und hungrig wird; weil wir warten, wachen, weitermachen und schließlich sterben müssen.
Wir können mehr wissen und mehr tun. Doch präziser müsste es heißen: Wir können eine gewisse Art von Wissen und eine gewisse Art von Handlungen schneller vollziehen.
Bevor von Intelligenz und ihrem künstlichen Korrelat gesprochen werden kann, steht also fest: Bereits unsere Erfahrung und unser Bewusstsein sind etwas kategorial von dem Verschiedenes, was sich in einem "neuronalen Netz" (auch dies nur eine anthropomorphisierende Metapher) ereignet. Die Daten, die digital verarbeitet werden können, sind Teil nur jenes Ausschnitts aus der Realität, der sich vom subjektiven Erleben trennen lässt. Innerhalb dieses Ausschnitts ermöglicht immer schnellere und umfassendere Verarbeitung von Daten immer mehr Weltreichweite. Wir können mehr wissen und mehr tun. Doch präziser müsste es heißen: Wir können eine gewisse Art von Wissen und eine gewisse Art von Handlungen schneller vollziehen.
Wie viele Länder Afrika hat, kann ich nun schnell erfahren. Davon verschieden aber wäre das Erfahrungswissen, selbst schon einmal in Afrika gewesen zu sein. Eine Pizza bestellen oder einen Geldbetrag überweisen: das dauert digital nur noch einen Augenblick. Sport treiben, einschlafen, ein Kind zeugen, weinen oder tanzen kann ich durch Digitalisierung und AI jedoch weder schneller noch gründlicher. Vielleicht sogar ein wenig schlechter, weil der digitale Ersatz vom Analogen ablenkt.
Daten ohne Leben
Doch weshalb ist der Unterschied eigentlich so wichtig, wenn die Unterscheidbarkeit doch abnimmt? Der berühmte Turing-Test wurde ja längst bestanden: In der schriftlichen Kommunikation kann ein Mensch den Unterschied zwischen einer Person und einer AI-Anwendung nicht mehr erkennen.
Der Unterschied ist wichtig, weil unser gesamtes Leben uns immer nur als persönliches Erleben bekannt ist. Ich fühle meinen Schmerz und keinen sonst. Niemand anders kann meinen Schmerz fühlen. Niemand anders kann mein Leben an meiner Stelle leben. Ob Beziehungen, Wünsche, Erfolge, Genuss, Spaß oder Sinn: alles, was mich persönlich wirklich antreibt, tut es deshalb, weil es mich persönlich in meiner Existenz betrifft.
Entzieht man aus all diesem Erleben die Tatsache, dass es jemanden gibt, der all das erlebt, bleiben nur abstrakte Abbilder von Erfahrungen übrig. Es bleiben, so könnte man überspitzt formulieren, nur Daten übrig, doch das Leben wurde aus der Gleichung gekürzt. Das Leben, das mir in realen Begegnungen mit realen anderen Menschen entgegentritt und ethische Forderungen an mich stellt, das Leben, das mich zur Entscheidung aufruft. Vielleicht müssen manche Bücher hundert Jahre lang liegen, bis ihre Zeit kommt. Jetzt jedenfalls scheint ein guter Augenblick, ein wenig Phänomenologie zu lesen.