Nach meiner letzten Kolumne auf dieser Plattform haben mich viele zustimmende Nachrichten erreicht. Meine sonntägliche Erfahrung mit einem "Gottesdienst zum Abgewöhnen" scheint nicht ganz solitär in der Landschaft zu stehen. Eine weitere Philippika zum selben Thema war überhaupt nicht geplant. Doch wieder drängt mich ein sonntäglicher Gottesdienst zum Schreiben.
Wieder war ich am Wochenende unterwegs und finde in einer norddeutschen Kleinstadt am Sonntag um acht eine heilige Messe. Soweit ja durchaus erfreulich. Direkt nach dem Eingangslied kommt eine längere Ansprache, die die Predigt vorwegnimmt. Sie handelt von der Bürokratie.
Bürokratie, so hallt es durch den fast leeren Kirchenraum; Bürokratie sei so ein Wort, das Unterschiedliches bedeuten könne. Ob der frühen Stunde noch leicht verschlafen und im kalten Kirchenraum fröstelnd, schaue ich verunsichert auf die wenigen anderen Gestalten, die in ihren Bänken vor sich hinblicken. Inbrünstig ruft der Prediger abermals "Bürokratie!" in das schon deutlich übersteuernd knarzende Mikrofon und macht mich immer ratloser, ob ich jetzt betroffen oder wachgerüttelt sein soll.
In eloquentem Sprachfluss, reich an Sprachspiel und Redewendungen, flicht der Vortragende nun eine Verbindung zu einem Bierdeckel und zu Friedrich Merz. Allerhand wird hier angerissen und zitiert, leutselig an Tagesaktuelles angeknüpft. Der Tonfall hat etwas Theatralisch-Skandierendes, fast, als würde hier ein Bühnenmonolog der klassischen Literatur verlesen. Gattung wohl: bürgerliches Trauerspiel. Denn Ernstes wird hier nun verhandelt. Um das gute Miteinander geht es, um Krieg und Frieden, um das Leben und die Liebe, darum, wie all das unweigerlich und unentwirrbar zusammenhängt und – nicht zuletzt! – die Bürokratie! Tatsächlich kommt auch das Tagesevangelium dann irgendwie vor, doch in welcher Hinsicht genau, das vermag ich nach einer guten Viertelstunde nicht mehr zu sagen.
Was mich an der Ansprache so nachhaltig verstört, ist das Ungleichgewicht zwischen rhetorischem Pathos und formulierten Gedanken. Und das begegnet mir tatsächlich oft bei Predigten und Vorträgen theologischer Natur.
Der Gottesdienst wird schließlich weitergeführt von einem indischen Priester, der zwar kaum Deutsch kann, dafür die Messe aber andächtig und unprätentiös fertig liest.
Was mich an der Ansprache jedoch so nachhaltig verstört, ist das Ungleichgewicht zwischen rhetorischem Pathos und formulierten Gedanken. Und das begegnet mir tatsächlich oft bei Predigten und Vorträgen theologischer Natur. In irgendeinem Buch über Homiletik muss wohl stehen, dass singender Tonfall mit gezielten Kunstpausen, markant herausgeschriene Begriffe wie "Bürokratie!" oder "Menschen des Friedens!" den vom spirituellen Tiefschlaf gefährdeten Gottesdienstbesucher existenziell aufzurütteln vermögen und deshalb unabdingbar sind. Dieses Buch haben offenbar recht viele gelesen und beherzt.
Die gute Absicht des Predigers und auch die grundsätzliche Richtigkeit der meisten Aussagen darin soll keineswegs in Abrede gestellt werden. Mir scheint aber, wir trauen der Rhetorik zu viel und der Kraft des Gedankens zu wenig zu. Die Kirche "verrecke an ihrer Sprache", so formulierte Kommunikationswissenschaftler Erik Flügge das einmal sehr brachial. Sterben wird sie an Predigten wie der oben beschriebenen zwar nicht, zum Leben kommen aber gewiss ebenso wenig.
Die Wahrheit macht frei. Als "Geist und Leben" bezeichnet Jesus seine eigenen Worte, und von ihm wurde gesagt, er spreche nicht wie einer der Schriftgelehrten, sondern mit einer ungekannten Vollmacht. Das Problem scheint also schon älter zu sein.
Worte sprechen uns dann an, wenn sie aus der Personenmitte kommen. Also eben nicht nur wohlklingend, sondern aus dem Herzen gesprochen. Zu viel Rhetorik ist da eher hinderlich. Worte haben dann geistige Kraft, wenn sie dem Schweigen und dem hörenden Beten erwachsen. Nicht konstruiert klingen. Worte überzeugen, wenn die darin geäußerten Gedanken keine Gemeinplätze und Kalendersprüche sind, sondern durchdacht und präzise sind. Man könnte auch sagen: wenn sie weniger bürokratisch klingen. "Bürokratie!", würde mancher Prediger hier laut rufen.