Stellen Sie sich vor, jemand nimmt sich einmal im Monat eine Stunde Zeit für Sie. In dem absolut vertraulichen Gespräch geht es nur um Sie: Was Sie gerade bewegt, was Sie glauben und hoffen, zweifeln und hadern lässt. Alles kann zum Thema werden, nichts muss. Und das in der Regel kostenlos. Dieses Angebot gibt es in der katholischen Kirche unter dem Stichwort "Geistliche Begleitung" – auch wenn wahrscheinlich nur wenige ihrer Mitglieder darum wissen.
In den verschiedenen Bistümern sind zentrale Stellen für Geistliche Begleitung zuständig, aber auch geistliche Gemeinschaften und Orden bieten sie an. Manchmal melden sich Menschen, weil sie vor einer großen Entscheidung stehen: Soll ich den Job wechseln und dafür in eine andere Stadt ziehen? Aber genauso willkommen sind Menschen ohne konkretes Anliegen, die eine Sehnsucht nach mehr Tiefe in ihrem Leben spüren. Ist ein möglicher Begleiter gefunden, entscheidet ein unverbindliches Kennenlerngespräch, ob man sich vorstellen kann, miteinander unterwegs zu sein. Beide Seiten geben ein Votum ab und verabreden einen geplanten Zeitraum, zum Beispiel ein Jahr, der bei Bedarf verlängert werden kann.
Nach Gottes Willen suchen
Wie schon der Name deutlich macht, begleitet die Seelsorgerin oder der Seelsorger den Menschen auf seinem Weg mit Gott – und verwechselt sich nicht selbst mit ihm. Ignatius von Loyola weiß um diese Versuchung und schreibt in seinen "Geistlichen Übungen" gewissermaßen eine Prävention geistlichen Machtmissbrauchs avant la lettre: "Der die Übungen gibt, darf nicht den, der sie empfängt, mehr zu Armut oder einem Versprechen als zu deren Gegenteil bewegen noch zu dem einen Stand oder der einen Lebensweise mehr als zu einer anderen." Innerhalb eines solchen Kontextes sei es "beim Suchen des göttlichen Willens angebrachter und viel besser, dass der Schöpfer und Herr selbst sich seiner frommen Seele mitteilt." Nicht der Begleiter erkennt stellvertretend den Willen Gottes für den Begleiteten und teilt ihn autoritär mit. Vielmehr begeben sich beide gemeinsam auf die Suche. Hier zeigt sich die Kirche als hörende, nicht als belehrende.
Das Eigentliche geschieht schon dadurch, dass die begleitete Person erzählt. Dadurch ordnet sie ihre Gedanken, bringt eine Struktur in das Erlebte, wird (wieder) zur Autorin ihres Lebens. Der Begleiter fragt nach, teilt seine Wahrnehmung oder schlägt ein Bild aus der christlichen Spiritualität oder eine dazu passende Bibelstelle vor, wozu sich die begleitete Person wiederum völlig frei verhalten kann. So erschließen sich etwa Zusammenhänge, bekommt manches eine neue Bedeutung, scheinen Spuren der Gnade auf.
Der geistliche Begleiter ist jemand, der – oftmals im Kontrast zu Familie und Freunden, die aufgrund ihrer emotionalen Involviertheit gar nicht anders können – nicht vorschnell vertröstet, sondern Fragen mit aushält, auf die es in diesem Leben keine Antwort gibt.
Das bedeutet nicht, dass alles in der Rückschau einen Sinn ergeben muss. Im Gegenteil ist der geistliche Begleiter jemand, der – oftmals im Kontrast zu Familie und Freunden, die aufgrund ihrer emotionalen Involviertheit gar nicht anders können – nicht vorschnell vertröstet, sondern Fragen mit aushält, auf die es in diesem Leben keine Antwort gibt. Als offizielle Vertreter der Kirche können geistliche Begleiter auch Adressaten für schlechte Erfahrungen mit ihr sein. Es ist unglaublich wertvoll, wenn der betroffenen Person im Namen der Kirche einmal wirklich zugehört und ihr gesagt wird: "Es tut mir leid, dass Sie das erleben mussten."
Da es sich um eine so sensible und verantwortungsvolle Arbeit handelt, gibt es eine spezielle Ausbildung dafür, die von Frauen und Männern, Laien und Amtsträgern absolviert werden kann. Bei dieser Aufgabe zählt nicht, ob man geweiht oder nicht geweiht ist, sondern ob man zuhören und den anderen anders sein lassen kann. Nicht zuletzt ist es für die Begleiterinnen und Begleiter elementar, die eigenen spirituellen Kraftquellen zu kennen und sich regelmäßig Zeit dafür zu nehmen.
So alt das Angebot ist, so sehr trifft es den Nerv der Zeit. Längst ist der christliche Glaube keine vom Umfeld getragene Selbstverständlichkeit mehr. Der postmoderne Prozess der Freisetzung aus vorgegebenen Strukturen hat seinen Preis: Jeder muss selbst entscheiden, was und wie er glaubt – und das dauerhaft vor sich selbst und anderen begründen, schließlich könnte und dürfte er in einer individualisierten und pluralisierten Gesellschaft auch etwas ganz anderes glauben. Geistliche Begleitung hilft dabei, sich in der Fülle an Sinn- und Deuteangeboten zu orientieren und den christlichen Glauben als Ressource für das ganz konkrete Leben zu entdecken.