Während meines Auslandsjahres in Paris war ich zu Gast in einem der Priesterseminarhäuser. Vor Freude über die Einladung vergaß ich, Bescheid zu geben, dass ich kein Fleisch esse. Ich musste es also – höchst unangenehm und natürlich viel zu spät – in dem Moment sagen, als wir uns an den Tisch setzten. Kaum hatte ich aufgehört, zu sprechen, sprang ein junger Seminarist auf, lief in die Küche und fragte mich, ob es in Ordnung wäre, wenn er mir ein paar Eier braten würde. Diese ebenso herzliche wie hemdsärmelige Gastfreundschaft eines Priesteramtskandidaten hat mich nachhaltig beeindruckt. Ich bin sicher, dass sie etwas mit der besonderen Struktur des Pariser Priesterseminars zu tun hat.
Statt eines – oft majestätischen und oft etwas verschlossen wirkenden – "Seminars" gibt es in Paris acht Seminarhäuser. In verschiedenen Pfarrhäusern mitten in der Stadt leben acht bis vierzehn Seminaristen zusammen mit meist zwei pères de maison, die schon Priester sind und die jungen Männer auf ihrem Weg begleiten. Die Idee dazu hatte der für die französische Kirche prägende Kardinal Jean-Marie Lustiger. Als er 1981 Erzbischof von Paris wird, plant er die Gründung eines Seminars, das der veränderten Situation in einer säkularisierten Gesellschaft und damit einhergehend einer geringer werdenden Anzahl von Seminaristen gerecht wird. Die zukünftigen Priester sollten eine fundierte Ausbildung erhalten, die sie menschlich, spirituell und intellektuell darauf vorbereitet. 1984 eröffnet das "Maison Saint-Augustin", in dem die jungen Männer ihre Berufung vor dem eigentlichen Seminar-Eintritt ein Jahr lang unterscheiden, 1985 das erste der Seminarhäuser. 2025 wird das 40-jährige Jubiläum des "Séminaire Notre-Dame" und der dazugehörigen Fakultät gefeiert, die ebenfalls auf Lustiger zurückgeht und an der die angehenden Priester studieren.
Das ganz normale Leben
Ein befreundeter deutscher Priester hat sich nach seinem Pariser Freijahr ganz bewusst entschieden, für die weitere Ausbildung dort zu bleiben. Drei Jahre lang war er Teil einer der Wohngemeinschaften, danach kehrte er nach Deutschland zurück. Er sagt: "Wenn ich jetzt nach fünfeinhalb Jahren sagen kann: Was hat mich mehr auf die Realität als Priester im Alltag vorbereitet?, würde ich ganz klar sagen: Paris." Das Besondere dort ist für ihn, dass es nicht besonders zugeht: "Das fand ich in Paris stark, dass wir da wirklich wie jeder Student den kompletten Haushalt selber schmeißen musste. Jeden Samstagvormittag war Putztag angesagt, und da haben die zwei oder drei Priester, die mit uns gelebt haben, genauso mitgeputzt". Kochen musste jeder zweimal die Woche, im Team mit einem anderen Seminaristen. "Sich zu organisieren: Wann muss ich einkaufen? Auch da mussten wir neben der Uni, neben den ganz normalen Dingen, die zu machen waren, schauen, dass wir das unter einen Hut bekommen, so wie viele Familien, also das ganz normale Leben."
Viele, gerade junge Priester, sehnen sich nach Gemeinschaft. Aber Gemeinschaft muss auch eingeübt werden. Genau das findet in Paris statt.
Wie blickt jemand auf Hausfrauen, auf Eltern, die zwischen Arbeit, Familie und Haushalt jonglieren, wie predigt jemand über die Herausforderungen des Alltags, der selbstverständlich einkaufen, kochen, putzen musste? Vermutlich mit mehr Wertschätzung und Einfühlungsvermögen als jemand, der jahrelang quasi rundum versorgt wurde. Ganz abgesehen davon, dass bei knapper werdenden Ressourcen solche Fähigkeiten auch für den Priester selbst immer wichtiger werden.
Viele, gerade junge Priester, sehnen sich nach Gemeinschaft. Vita communis heißt das Schlagwort, mit dem Überlegungen verbunden werden, ob es nicht sinnvoller ist, anstatt allein in einem großen Pfarrhaus lieber mit anderen Priestern zusammenzuleben, gemeinsam zu essen, zu beten, sich abends über den Tag austauschen zu können. Aber Gemeinschaft muss auch eingeübt werden. Genau das findet in Paris statt. Denn natürlich gibt es in so einer intensiven Wohngemeinschaft auch Streit. Aber durch das enge Zusammenleben muss man lernen, wie man dann miteinander sprechen und sich versöhnen kann. Es sind diese Kompetenzen, die Priester brauchen, wenn sie in Pfarreien Verantwortung tragen, in denen es oft allzu menschlich zugeht.
Die kleine Gemeinschaft hat noch einen weiteren Vorteil: Nie zuvor war ein so großes Bewusstsein dafür da, dass Lebenswege individuell und vielfältig sind. Menschen bringen unterschiedliche Hintergründe, Spiritualitäten und biografische Brüche mit. In einem überschaubaren Setting kann gut darauf eingegangen werden.
Überhaupt wirken die pères de maison dadurch, dass das Leben mit ihnen geteilt wird, nahbar. Die Seminaristen erleben sie nicht als priesterliche Lichtgestalten, sondern zuallererst als Menschen. Dass in einem solchen Klima eine überzogene Ehrfurcht entsteht, die etwa Kritik verunmöglicht, ist eher unwahrscheinlich.
Weil die sich Wohngemeinschaften in Pfarrhäusern befinden, sind sie außerdem an eine ganz normale Pfarrei angebunden. Die Seminaristen sind dort über die Jahre fest engagiert. So üben sie das ein, was sie später als Priester tun werden: Beziehungen aufbauen, von denen die Seelsorge lebt. Auch die verantwortlichen Priester haben meistens einen Teilauftrag dort und verlieren so nicht den Kontakt zur Basis.
Überhaupt wirken die pères de maison dadurch, dass das Leben mit ihnen geteilt wird, nahbar. Die Seminaristen erleben sie nicht als priesterliche Lichtgestalten, sondern zuallererst als Menschen. Dass in einem solchen Klima eine überzogene Ehrfurcht entsteht, die etwa Kritik verunmöglicht, ist eher unwahrscheinlich. In die Ausbildung eingebunden sind aber nicht nur Priester, sondern auch Ehepaare, Familien, Ordensfrauen. Dadurch wird unterstrichen, dass Berufungen vielfältig sind und gemeinsam das bilden, was Kirche ausmacht.
Einige Zeit nach meiner Rückkehr aus Paris war ich in einem deutschen Priesterseminar mit einer professionellen Küche und entsprechenden Angestellten zum Mittagessen eingeladen. Einen Tag vorher schrieb ich dem Seminaristen, von dem die Einladung ausging, dass ich Vegetarierin bin. Seine Antwort: "Vielleicht hast Du Glück und die Beilage morgen ist fleischfrei".