Wer älter wird, muss öfters erleben, dass Freunde sterben. Häufiger hat er die unerwünschte Gelegenheit, Formen einer zeittypischen Bestattungskultur zu beobachten. Die Witwe des verstorbenen Kollegen, eines Jazzkritikers, zum Beispiel tröstet sich und die Freunde damit, dass sie die Stücke seiner Lieblingskünstler zu Gehör bringt. Für die sorgfältig ausgewählten Tonkonserven ist die Anlage der Friedhofskapelle offenbar nicht gedacht, denn die Lautsprecher sind überfordert und scheppern. Die Trauerrednerin, dezent gekleidet in Hose und Tunika, bemüht sich erfolgreich um einen emphatisch getragenen Tonfall, der etwas einschläfernd klingt. Sie erwähnt die biografischen Höhepunkte und garniert sie mit tröstlichen Lebensweisheiten. Wahrscheinlich hat sie ein Handbuch dafür befragt.
Der Verstorbene, katholisch aufgewachsen, ist im Lauf seines Lebens zum Kirchenfeind geworden. Folglich gibt es in dieser Trauerfeier kein irgendwie religiöses Ritual, keine frommen Lieder, keine Gebete, keine Segnungen. Sie ist wahrhaft traurig. Seltsam nur, dass an der Stirnwand der Kapelle deutlich sichtbar ein Kreuz hängt. Es ist nur noch eine Dekoration.
Thomas Linde, die Hauptfigur in Uwe Timms großartigem Roman "Rot" (2001), verdingt sich gelegentlich als Trauerredner. Er nimmt seine Aufgabe ernst. "Ach, der liebe Gott", heißt es einmal, "den darf ich von Berufs wegen nie erwähnen. Philosophen, Dichter, ja." In dem Roman werden nicht nur einzelne Personen zu Grabe getragen, sondern auch und vor allem eine ganze Epoche: die Epoche der Achtundsechziger und ihrer nach und nach erloschenen Begeisterung für den Aufbruch und für den Kampf gegen die alten Institutionen.
Der Kampf war insofern erfolgreich, als traditionelle religiöse Bestattungen heute weniger als die Hälfte aller Fälle darstellen. Neue Formen sind hinzugekommen – wie etwa die Friedwälder. Einmal war ich Teil eines Trauermarsches, der sich im Schneetreiben über die frostigen Felder der Eifel auf einen lichten Buchenhain zubewegte, wo am Fuß eines Baumes ein für die Urne passendes Loch ausgehoben worden war. Wenig später steigerte sich das Schneetreiben zu einem Sturm, und wir priesen uns glücklich, als wir zu Hause angelangt waren.
Erdbestattungen sind seltener geworden. Das hängt auch damit zusammen, dass die Kassen seit geraumer Zeit kein Sterbegeld mehr bezahlen. Särge und Friedhofsplätze kosten mehr Geld, als viele aufbringen können oder wollen – auch wenn die Sargpflicht in vielen Bundesländern aufgehoben worden ist. Dies kommt den Muslimen entgegen, deren Kultur Särge nicht kennt.
Siebzig Prozent aller Verstorbenen werden mittlerweile verbrannt. Weil Urnen, falls die Asche nicht den Meereswellen oder den Himmelslüften anvertraut wurde, weniger Platz benötigen, geraten die Friedhofsverwaltungen in finanzielle Probleme. Sie müssen die Grünanlagen pflegen, egal, ob die Gebühren für die Grabstätten ausreichen oder nicht. Klimaschützer übrigens versäumen nicht, darauf hinzuweisen, dass Krematorien relativ umweltschädlich sind.
Kann man Rituale erfinden? Eigentlich nicht. Sie bilden sich heraus, meist über eine lange Zeit hinweg.
Die protestantischen Trauerfeiern, die ich hier oben im Norden, in Hamburg, erlebt habe, waren würdige Veranstaltungen, wo der Pastor die passenden Worte fand und es nicht versäumte, an fundamentale christliche Wahrheiten zu erinnern. Man hat das "Vater unser" gebetet und die alten Lieder gesungen. An die lebensgroßen Fotografien allerdings, die oftmals vor dem Sarg, vor den Blumen und Kränzen, aufgestellt werden, kann ich mich nur schwer gewöhnen. Der unangebracht profane Bildvergleich "Vorher – Nachher" drängt sich mir dann unwillentlich auf.
Kann man Rituale erfinden? Eigentlich nicht. Sie bilden sich heraus, meist über eine lange Zeit hinweg. Die christlichen Riten sind in Jahrhunderten entstanden und zur mittlerweile brüchigen Tradition geworden. Sie ist immerhin noch so lebendig, dass viele kirchenferne Menschen im Zweifel dazu neigen, sich im Ernstfall dem Erprobten anzuvertrauen. Man weiß ja nie …
Für agnostisch oder atheistisch geprägte Trauerfeiern ist die fehlende Geborgenheit im Ritual ein schwer lösbares Problem. Man sucht nach der richtigen Form und findet sie nur selten. Doch angesichts der Tatsache, dass die Zahl der anonymen Bestattungen, wo kein Hahn nach irgendwem mehr kräht, immer mehr zunimmt, muss man Respekt vor solchen Bemühungen haben.
Ohnehin hält unser Umgang mit den Toten den Vergleich mit frühen Hochkulturen nicht aus. Die Vorstellung, dass die Verstorbenen nicht einfach nur weg sind, sondern eine andere Welt betreten haben, führte zur Errichtung mächtiger Nekropolen. Allerdings waren sie keineswegs für alle gedacht, sondern nur für die jeweilige Aristokratie oder Elite. Unsere Bestattungskultur ist ärmlicher, aber zweifellos demokratischer. Und sie passt zu unserer nomadisierenden Lebensweise, die angestammte Familienorte und ihre Grabstellen kaum noch kennt.