Judas und die AuferstehungBei Amos Oz wird der vermeintliche Verräter zum treuesten Jünger

Amos Oz’ Roman "Judas" ist eine radikale Neudeutung des biblischen Judas – und ein Nachdenken über Verrat, Glauben und die Tragik des Staates Israels.

Ulrich Greiner
© privat

Wer war Judas Iskariot? Das Neue Testament berichtet, er habe Jesus verraten und habe ihn, damit die Häscher Bescheid wüssten, demonstrativ geküsst. Er sei derjenige gewesen, der den Prozess gegen Jesus in Gang gesetzt habe.

Der jüdische Student Schmuel Asch ist anderer Ansicht. Bei seinen Recherchen findet er heraus, dass dieser Mann zur jüdischen Oberklasse der Pharisäer gehörte. Dort kam man überein, Judas solle sich den Jüngern zum Schein anschließen, um herauszufinden, was es mit diesem Jesus auf sich habe. Judas sei, so Schmuel Asch in seiner Magisterarbeit, von dem Nazarener derart begeistert gewesen, dass er sich ihm angeschlossen habe.

Asch schreibt:

"Als die Gesandten der Priesterschaft und die Tempelwächter kamen, um Jesus gefangenzunehmen, erschraken die Jünger, sie fürchteten um ihr Leben und flohen in alle Richtungen, nur Judas blieb bei ihm. Vielleicht küsste er Jesus, um ihm Mut zu machen." Und Asch gelangt zu dem Fazit: "Was für eine Ironie, dass der erste und letzte Christ, der einzige, der Jesus keine Minute verließ und ihn nicht verleugnete, der einzige Christ, der an die Göttlichkeit Jesu bis zu seiner letzten Sekunde am Kreuz glaubte, der Christ, der sehnsüchtig erwartete, dass Jesus vom Kreuz steigen würde, vor Jerusalem und der ganzen Welt, der einzige, dessen Herz beim Tod Jesu wirklich brach, ausgerechnet er wird mehr als jeder andere verspottet und verabscheut."

So erzählt es der israelische Schriftsteller Amos Oz in seinem grandiosen Roman "Judas" (2015). Er verlangt Gerechtigkeit für einen Mann, der zum Inbegriff des Verräters wurde. Und er zeigt, dass der Vorwurf des "Verrats", eines wirklichen oder eines unterstellten, die Geschicke des neuen Staates Israel von Anfang begleitet hat.

Schmuel Asch muss zusehen, wie er zu Geld kommt. So verdingt er sich als Altenpfleger in einer Jerusalemer Villa. Dort lebt die schöne Atalja zusammen mit ihrem Schwiegervater Gershom, der sich nur noch auf Krücken bewegen kann, aber geistig vollkommen auf der Höhe ist. Ihn soll der Student unterhalten, ihm Tee zubereiten und das vorbereitete Abendessen aufwärmen.

Die Erzählung spielt in Jerusalem, in den Wintermonaten der Jahre 1959 und 1960. Es ist kalt. Schmuel liegt in seinem Zimmer oben in der Mansarde und lauscht dem Regen. Eigentlich müsste er an seiner Arbeit weiterschreiben, doch seine Gedanken schweifen immer wieder zu Atalja ab, in die er hoffnungslos verliebt ist, obwohl ihn Gershom dringend davor gewarnt hat.

Die Gespräche der beiden drehen sich immer leidenschaftlicher um Israel und seine Zukunft. Schmuel erfährt, dass der Sohn Gershoms und der Ehemann Ataljas im israelischen Unabhängigkeitskrieg eines grausamen Todes gestorben ist. Er erfährt, dass Ataljas Vater zu den Gründungsmitgliedern Israels zählte, aber dringend davon abriet, sich auf einen rein jüdischen Staat zu kaprizieren. Dies müsse den Hass der Araber provozieren und zu einem ewigen Krieg führen, den Israel auf Dauer nicht gewinnen könne. Damit zog er sich die Feindschaft Ben Gurions und seiner Freunde zu. Sie nannten ihn Verräter.

Man sieht, wie Amos Oz mit dem tragischen Schicksal seines Landes hadert. Am Ende jedoch geht er auf den Anfang zurück und imaginiert die Kreuzigung. Er schildert die Schaulustigen, die sich um die drei auf elende Weise Sterbenden versammelt haben. Nicht wenige genießen das Schauspiel und haben sich mit Proviant versorgt. Andere sind starr vor Entsetzen:

"Genau zu Füßen des mittleren Kreuzes, vier oder fünf Frauen, trauernde Frauen, dicht zusammengedrängt, Schulter an Schulter, fast umarmt, aber sie umarmten einander nicht, ihre Arme hingen schlaff herunter. Manchmal legte die Jüngste unter ihnen den Arm um die Schulter der Ältesten und strich über ihre Wange und wischte ihr mit einem Tuch über die Stirn. Die ältere Frau stand da wie versteinert, als wäre sie gelähmt, sie ließ den Blick nicht vom Kreuz, aber ihre Augen waren trocken."

Judas steht am Rand und beobachtet die Szene. Er verspürt den Impuls, zu den Frauen hinüberzugehen, aber er beherrscht sich. "Das Wunder, an das der Mann glaubte, ohne jeden Zweifel, konnte sich gleich ereignen. Jeden Moment. Auf der Stelle. Sofort. Jetzt gleich." Doch das Wunder bleibt aus, Jesus stirbt. "Ich habe ihn von ganzem Herzen geliebt", denkt Judas, "ich glaubte, der Tod könne ihm nichts anhaben." Er geht davon und erhängt sich.

So erzählt Amos Oz die Geschichte des Judas. Sie endet vor dem Ende. Hätte Judas wirklich an Jesus geglaubt, hätte er nur ein bisschen noch gewartet, so hätte er von der Auferstehung erfahren.

Im ersten Korintherbrief sagt Paulus:

"Christus ist für unsere Sünden gestorben, gemäß der Schrift, und ist begraben worden. Er ist am dritten Tag auferweckt worden, gemäß der Schrift, und erschien dem Kephas, dann den Zwölf."  Und er fügt hinzu: "Ist aber Christus nicht auferweckt worden, dann ist unsere Verkündigung leer, leer auch euer Glaube."

Dass Judas den Brief nicht kennen konnte, kann man ihm nicht vorwerfen. Dass er letztlich nicht verstanden hat, worum es Jesus ging – das durchaus.

COMMUNIO im Abo

COMMUNIO will die orientierende Kraft des Glaubens aus den Quellen von Schrift und Tradition für die Gegenwart erschließen sowie die Vielfalt, Schönheit und Tiefe christlichen Denkens und Fühlens zum Leuchten bringen.

Zum Kennenlernen: 1 Ausgabe gratis

Jetzt gratis testen