Eine Provokation, mit Kreide auf den Gehweg geschrieben: "Die Bibel ist ein Märchenbuch". Ulrich Greiner liest sie alljährlich, wenn er zur Weihnachtszeit in Hamburg auf dem Weg zur Kirche ist. Er meint: Der anonyme Urheber der Parole sitzt einem Missverständnis auf.

In den vergangenen Jahren konnte ich, wenn ich in der Weihnachtszeit zur Kirche ging, unter meinen Füßen den Satz lesen "Die Bibel ist ein Märchenbuch". Jemand hatte ihn in großen Lettern auf den Gehweg gemalt. Als ich das las, dachte ich: Der Verfasser muss von seiner Botschaft, eigentlich einer Anti-Botschaft, so erfüllt sein, dass er sich jedes Jahr die Mühe macht, sie aufs Pflaster zu pinseln. Ist es ein Feind der Weihnachtsbotschaft, vielleicht der Bibel überhaupt? Will er den Gläubigen zu verstehen geben, die biblischen Erzählungen seien bloße Märchen, also erfunden und erlogen?

Die Wahrheit der Literatur

Wenn ich die verantwortliche Person träfe, dann würde ich ihr gerne sagen: Sie sitzen einem Missverständnis auf. Die Bibel ist kein Polizeibericht. Zunächst einmal ist sie Literatur. Und die Wahrheit der Literatur hängt nicht davon ab, ob sich die erzählten Ereignisse exakt so zugetragen haben, wie der Erzähler sie notiert. Niemand würde dem Dichter Homer vorwerfen, er habe die Abenteuer des Odysseus erfunden. Das gerade ist seine Leistung. Und kein verständiger Leser käme auf die Idee, den Kontrakt, der zwischen Faust und Mephisto ausgehandelt wird, für bare Münze zu nehmen. Das Stück handelt (unter anderem) von dem tückischen Zusammenhang zwischen dem Allmachtswunsch und dem Bösen. Darin liegt seine Wahrheit.

Am Schicksal der literarischen Helden nehmen wir nicht deshalb Anteil, weil sie das Abbild wirklicher Gestalten sind, sondern glaubhafte, über den Sonderfall hinausweisende Erfindungen, die es uns erlauben, unser Leben (und das Leben überhaupt) besser zu verstehen.

Odysseus und Faust, Anna Karenina, Hans Castorp und Emma Bovary: Sie verdanken ihr Leben nicht dem Zufall der Geburt, sondern dem Einfall ihrer Schöpfer, und die Wahrheit, die uns in ihren Geschichten begegnet, entsteht nicht aus der Reproduktion des Realen, sondern aus seiner Überhöhung. Am Schicksal der literarischen Helden nehmen wir nicht deshalb Anteil, weil sie das Abbild wirklicher Gestalten sind, sondern glaubhafte, über den Sonderfall hinausweisende Erfindungen, die es uns erlauben, unser Leben (und das Leben überhaupt) besser zu verstehen.

Die Verheißung, dass Geschichten auf bestürzende Weise unser Verständnis und unsere Wahrnehmung der Welt verändern können, ist und bleibt eine fortwährende Kraftquelle der Literatur. Die Romantiker zum Beispiel hatten sich die "Romantisierung" der Welt zum Ziel gesetzt. Das hieß, so fasste es Novalis, "dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten und dem Endlichen einen unendlichen Schein" zu geben.

Die Romantisierung ist eine Fortsetzung des Märchens mit kunstästhetischen Mitteln. In den Märchen steht das Alltägliche unmittelbar neben dem Wunderbaren, und beides zusammen mündet in eine höhere Erkenntnis. "Schneewittchen" erzählt vom Fluch der Eitelkeit, "Hans im Glück" vom Triumph der schönen Einfalt, "Rotkäppchen" vom Sieg über das Böse. Zauberei und Hokuspokus sind bloß die dramaturgischen Mittel einer manchmal schlichten, manchmal subtilen Botschaft.

Der Pflastermaler jedoch scheint einem Eins-zu-eins-Realismus anzuhängen und die Bibel wie ein Sitzungsprotokoll zu lesen. Er übersieht, dass sie literarische Muster zu einem höheren Zweck nutzt. Es fällt zum Beispiel auf, wie oft Jesus seinen Jüngern Gleichnisse erzählt. Das Gleichnis aber, wie etwa das vom verlorenen Sohn, behauptet nicht, dass sich das Ereignis, von dem es handelt, tatsächlich zugetragen hätte, sondern es macht klar, dass es sich hätte zutragen sollen.

Jeder literarische Text ist auf das Wohlwollen, auf das Entgegenkommen des Lesers angewiesen. Er gewährt dem Autor einen Vertrauensvorschuss, indem er Geld und Zeit opfert, um ihn auf einer Expedition ins Ungewisse zu begleiten. Und falls ihm diese Reise nach und nach als zu anstrengend oder unergiebig vorkommt, wird er die Lektüre abbrechen. Dann ist der Vertrauensvorschuss aufgebraucht.

Die Wahrheit der Bibel

Hier nun endet die Parallele zwischen der Bibel und profaner Literatur. Auch die Bibel verlangt den gnädigen Leser. Doch darüber hinaus fordert sie einen Glaubensvorschuss. Sie ist kein Text wie andere. Ihr eignet der höchste Grad von Verbindlichkeit. Die berühmte Zeile, mit der Rilkes Sonett "Archaïscher Torso Apollos" überraschend endet "Du musst dein Leben ändern", ist hier kein Aperçu und nicht bloß eine Empfehlung. Sie ist das ultimative Gebot. Was es bedeutet und wie es zu befolgen wäre, davon handelt das Evangelium. Insofern ist die Bibel wahrlich kein Märchenbuch.

Jedenfalls bin ich gespannt, ob ich auch in diesem Jahr die Nachricht des unbekannten Agnostikers lesen werde.

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