Welche Bedeutung hat eigentlich die Beichte? Selbst für praktizierende Katholiken spielt sie, so meine Vermutung, keine große Rolle mehr. Als Heranwachsender habe ich gelernt, dass man nur dann die Kommunion empfangen durfte, wenn man zuvor gebeichtet hatte. Außerdem musste man, als ginge man zum Arzt, nahezu nüchtern sein. Dafür war die Frühmesse da. Sie wurde von tapferen Hausfrauen besucht (zu ihnen zählte meine Mutter), die sich danach dem sonntäglichen Braten widmen durften.
Jedenfalls führte diese Praxis dazu, dass nur relativ wenige Gottesdienstbesucher nach vorne an die Kommunionbank gingen. Dort kniete man nieder, streckte die Zunge heraus, und der Priester platzierte darauf die Hostie. Ich war Messdiener und hatte die Aufgabe, einen kleinen goldenen Teller unter das Kinn des Empfangenden zu halten. Einmal fiel die Hostie dennoch auf den Boden. Gut erzogen, wie ich war, bückte ich mich, um sie aufzuheben. Da scheuchte mich der Priester auf die Seite, damit die Finger eines sündigen Knaben den heiligen Gegenstand nicht verunreinigen konnten.
"Kein Mensch kann einen Menschen retten!"
Wenn ich heute den Gottesdienst besuche, dann sehe ich, dass nahezu alle Gläubigen, mich eingeschlossen, nach vorne gehen, um die Kommunion zu empfangen, und ich halte es für unwahrscheinlich, dass alle vorher gebeichtet haben. Die Beichte scheint schweren Fällen vorbehalten zu sein, ähnlich jenem, von dem Stefan Andres in seiner einstmals berühmten Novelle "Wir sind Utopia" erzählt. Dort spielt die Beichte eine zentrale Rolle. Sie treibt die Handlung voran und bildet den dramatischen Höhepunkt der Erzählung.
Wir befinden uns im spanischen Bürgerkrieg. Die republikanischen Truppen haben eine zwanzig Mann starke Schar von Francisten gefangen genommen und in ein Kloster verbracht. Es zeigt sich, dass einer der Gefangenen ehemals Mitglied des dort ansässigen Ordens war und ein abtrünniger Priester ist. Der kommandierende Leutnant bittet darum, bei ihm beichten zu dürfen. Er leidet unter Albträumen, weil er einige Nonnen gemeuchelt hat, und erhofft sich von der Absolution eine Entlastung seines Gewissens. Der Gefangene weigert sich mit der Begründung, er sei exkommuniziert. Doch der Leutnant, der sich in der Klosterbibliothek kundig gemacht hat, erklärt ihm, ein Priester verliere niemals die Vollmacht der Lossprechung. Die Erinnerungen des ehemaligen Mönches an sein Klosterleben und die Gespräche mit dem auf der Beichte insistierenden Leutnant führen am Ende dazu, dass sie stattfindet. Beide Männer sind danach so bewegt, dass sie einander umarmen.
Mittlerweile ist die Front näher gerückt. Der Leutnant erhält den Befehl, das Kloster zu verlassen und die Gefangenen zu erschießen. Er macht eine Andeutung, dass er seinen Beichtvater davon ausnehmen und ihn "retten" könne. Dieser antwortet: "Sie mich retten? Kein Mensch kann einen Menschen retten! Man kann sich gegenseitig schonen – gewiß, aber was nützt selbst das? Wer nicht heute erschossen wird, kommt morgen dran!"
Die beiden kommen überein, die Gefangenen im Speisesaal zu versammeln und ihnen eine Generalabsolution anzubieten. Während der Priester zu den stumm abwartenden Soldaten die Worte der Verzeihung und Lossprechung spricht, fragt er sich, was sich hinter der ihm wohlbekannten Schiebetür befindet. Sie öffnet sich, nachdem er geendet hat, und zeigt ein Maschinengewehr: "…rechts von ihm fielen einige Männer um, während er selber, einen Schlag zwischen den Schultern spürend, nach hinten sank, sanft, als finge ihn die Unendlichkeit eines weichen Abgrundes auf, in den er ewig sinken könnte, ohne je auf einen Grund aufstoßen zu müssen."
Versprechen einer moralischen Entlastung
Die Novelle, 1942 zuerst erschienen, war in den fünfziger Jahren eines der am meisten gelesenen literarischen Werke. Stefan Andres (1906 bis 1970) lebte damals mit seiner jüdischen Frau in Italien. "Wir sind Utopia" versprach den Davongekommenen eine moralische Entlastung. In der Regel waren sie keine Helden gewesen. Der Priester findet das verzeihlich, wenn er zu dem Leutnant sagt:
"Sie stehen vor der Ausführung eines Befehls, und Ihre Handlungsfreiheit läuft auf vorgeschrieben Geleisen. Zu einer moralischen Rebellion, so scheint mir, ist eine heldenhafte Veranlagung nötig – oder eine außerordentliche Gnade von oben, ich glaube sogar beides … Und ich weiß nicht, wie weit der Mensch zu diesem allerhöchsten Heldentum verpflichtet werden kann – denn: wir sind Sünder!"
Das war kurz nach dem Krieg ein willkommener Trost. Heute ist die Erzählung fast vergessen. Das Gottvertrauen, von dem sie beseelt ist, lässt sich von Fatalismus kaum unterscheiden. Die Absolution, die dem Leutnant zuteil wird, ist ein Akt himmlischer Gnade, die den mörderischen Gang der Dinge nicht aufhalten kann. Unser mittleres Leben mit seinem entspannten Begriff von Sünde ist von Extremsituationen, wie Andres sie beschreibt, zum Glück weit entfernt.