Die Kunst und ihre blinden BetrachterGeorge Steiners "Von realer Gegenwart" wiedergelesen

Jedes Kunstwerk, das den Namen verdient, weist über sich hinaus. Doch der Kunst- und Wissenschaftsbetrieb ignoriert die Andersheit des Ästhetischen allzu oft. Aus der "realen Gegenwart" wird eine "reale Abwesenheit". Das hat schwerwiegende Folgen.

Ulrich Greiner
© privat

Als er die Gemälde und die Glasfenster in der Rosenkranzkapelle zu Vence 1951 vollendet hatte und die Ordensschwester ihm danken wollte, sagte Henri Matisse: "Ich habe es für mich getan", und als sie entgegnete: "Sie haben mir doch gesagt, dass Sie es für Gott täten", antwortete er: "Aber ich bin Gott!"

Der Philosoph und Schriftsteller George Steiner zitiert die Anekdote in seinem Buch "Real Presences". 1990 erschien es auf Deutsch unter dem Titel "Von realer Gegenwart". Die Beobachtung, dass der Künstler ein Schöpfergott ist, weil er seine Welt, die für ihn die Welt schlechthin bedeutet, ganz neu erschafft, ist alt, doch Steiner gibt ihr eine besondere Wendung. Jedes Kunstwerk, das den Namen verdient, weist über sich hinaus, es enthält eine nur schwer übersetzbare Bedeutung, die Steiner mit dem Begriff der "Andersheit" zu fassen versucht. Dieses "Andere" hat überschreitenden Charakter. Es ist transzendental, es bezieht sich auf Gott.

"Es gibt ästhetisches Schaffen", sagt Steiner, "weil es die Schöpfung gibt. Es gibt formale Strukturen, weil wir Form geworden sind." Und er fügt hinzu: "Meiner Auffassung nach ist der ästhetische Akt, dass also etwas entworfen und ins Dasein gebracht wird, was in ganz präzisem Sinne auch hätte nicht entworfen und ins Dasein gebracht werden können, eine imitatio, eine Wiederholung, im eigenen Maßstab, des unzugänglichen ersten fiat."

Wie also jedes Kunstwerk eine nachahmende Neuschöpfung ist, so ist auch ihre getreuliche Wahrnehmung "ein metaphysischer und letztlich ein theologischer Akt". Deshalb ist es nicht egal, wie ich mich dem Kunstwerk nähere. Steiner spricht vom gebotenen "Takt", von "Höflichkeit" und von einer "Verantwortlichkeit" der Rezeption. Die Verantwortlichkeit besteht in seinen Augen darin, dass ich auf die Wahrheit dessen, was mir in einem Kunstwerk begegnet, antworte – und sei es ohne Worte. Die Erschütterung, die mich beim Anhören einer Symphonie von Schostakowitsch oder beim Anblick von Picassos "Guernica" ereilt, ist ja doch allenfalls nur mit Mühe mitteilbar. Selbst die Literatur, die das Glück hat (und manchmal ist es auch ein Unglück), sich in jenem Medium zu bewegen, das wir täglich benutzen, kennt Werke, hinter denen die kommentierende, die interpretierende Sprache zurückbleibt. Rilkes "Duineser Elegien", Kleists "Kohlhaas" oder Melvilles "Billy Budd" – es gibt in diesen Werken Passagen, die mich, obwohl ich sie oft gelesen habe, immer wieder zu Tränen rühren. Tränen beweisen nichts, wie ich wohl weiß, und doch verstehe ich Steiners Zorn über einen Kultur- und Wissenschaftsbetrieb, der die "Andersheit" des Ästhetischen einem rüden Reduktionismus unterwirft und aus der "realen Gegenwart" eine "reale Abwesenheit" macht.

Manchmal lohnt es sich, alte Bücher zum zweiten Mal zu lesen. Steiners Buch ist mehr als dreißig Jahre alt, und doch es kommt mir heute noch überzeugender vor als 1990. Zugleich scheint die Basis seiner theologischen Ästhetik noch kleiner geworden zu sein. Steiner bedauert die Herrschaft der "wissenschaftlich-säkularen Welt", und er befürchtet die Gegenreaktion eines "religiösen Fundamentalismus". Die ist mittlerweile eingetreten.

George Steiner, der 2020 gestorben ist, war ein überaus gelehrter Mann, der an bedeutenden Universitäten in den USA, in England und in der Schweiz unterrichtet hat. Er entstammte einer jüdischen Familie, die schon 1924 wegen des wachsenden Antisemitismus von Wien nach Paris emigrierte – und von dort, vier Wochen bevor die Deutschen die Stadt besetzten, nach New York. Jetzt, da ein eliminatorischer Antisemitismus sein schreckliches Haupt erhebt, sieht man abermals, welch großartige Rolle die USA in der Leidensgeschichte der Emigranten gespielt haben und hoffentlich noch spielen werden.

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