An Allerseelen brennen die Lichter auf den Gräbern der Verstorbenen. Sie erinnern daran, dass die Toten uns nahe bleiben – in welcher Gestalt auch immer. Manchmal sind sie uns näher, als uns lieb ist, wie eine merkwürdige Erzählung von Henry James zeigt.

Wenn es stimmt, dass der Mensch aus Materie und aus Geist besteht, und wenn wir annehmen, dass der Geist "unverweslich" ist, wie der Apostel Paulus sagt, dann stellt sich die Frage, wo die Geister der Toten verweilen. Viele glauben, dass die "Entschlafenen", wie sie manchmal genannt werden, die Gestalt von Engeln angenommen haben, und nicht selten sieht man diese Engel in Form von marmornen Plastiken auf den Friedhöfen.

Ich erinnere mich, dass wir als Kinder, begleitet von Mutter und Tante, an Allerseelen auf den Friedhof gingen und am Familiengrab die roten Lichtlein anzündeten. Der Brauch faszinierte uns. Doch seitdem habe ich ihn nie mehr ausgeübt. Ein Versäumnis, wie mir nun scheint.

Eine der merkwürdigsten Erzählungen von Henry James handelt vom Fortleben der Toten: "Das glückliche Eck" (The Jolly Corner) aus dem Jahr 1908. Der Titel spielt darauf an, dass der schon etwas ältere Amerikaner Spencer Brydon, der mehr als dreißig Jahre in Europa gelebt hat, nach New York zurückkehrt und sein Elternhaus, wo er als Kind glückliche Tage verbracht hat, aufsucht. Der repräsentative Bau mitten in Manhattan steht vollkommen leer, und Brydon sieht sich vor der Frage, ob er ihn abreißen lassen soll.

Er zögert jedoch und nimmt die Gewohnheit an, nachts in diesem Haus umherzuschweifen und mithilfe einer Kerze oder des einfallenden Lichts der Straßenlaternen die vertrauten Örtlichkeiten zu inspizieren. Wenn er "die alten, silberbeschlagenen Knöpfe an den Mahagonitüren" berührt, hat er das Gefühl, als berühre er "die Hände von Toten", und er spürt "die Annalen von fast drei Generationen."

Der Kunstgriff von Henry James besteht nun darin, dass er die Geister als ebenso wirklich zeichnet wie die Lebenden.

Doch je mehr Brydon sich der Anwesenheit der Verstorbenen bewusst wird, je länger er solche Rückschau auf sein Leben hält, desto mehr quält ihn die Frage, was aus ihm geworden wäre, wäre er in seiner Vaterstadt geblieben. Das leere Haus, das ihm immer unheimlicher vorkommt, verkörpert sein anderes, sein möglich gewesenes und zugleich reales Ich. Und er nimmt sich vor, dieses Alter ego zum leibhaftigen Erscheinen zu zwingen.

Der Kunstgriff von Henry James besteht nun darin, dass er die Geister als ebenso wirklich zeichnet wie die Lebenden. Es erweist sich, dass der Geist, von dem Brydon begleitet wird, kein guter Geist ist, sondern der widrige Schatten seiner selbst. Da Brydon ihn nicht loswerden kann, beschließt er, ihn herauszufordern, damit er sich endlich zeige. Und er zeigt sich: "Bei diesem Anblick überlief Brydon eiskalter Schrecken, und er keuchte, weil er keinen Laut hervorbrachte: Das entblößte Gesicht war zu scheußlich, um das seine zu sein." Brydon stürzt zu Boden.

Am nächsten Tag wird er von seiner Freundin gefunden. Nur langsam kommt er zu sich und begreift, "dass Alice Staverton ihren Schoß zu einem breiten und bequemen Kissen für ihn gemacht hatte, während seine lange Gestalt sich auf den alten schwarzen und weißen Quadraten ausstreckte. Sie waren kalt, diese Marmorplatten seiner Jugend; und doch fühlte er die Kälte nicht, als er nach und nach das Bewusstsein wiedererlangte, in der schönsten Stunde, die er je erlebt hatte und die ihn so dankbar und so unendlich träge machte. Er war zurückgekehrt – jawohl, er war zurückgekehrt, und zwar von so weit her, wie vor ihm noch nie ein Mensch gereist war."

Wir wissen nicht, ob Brydon gestorben war und nun seine Auferweckung erfährt. Für die Geschichte ist das fast gleichgültig, denn auch das Leben im Jenseits ist das Leben. Brydon jedenfalls wird von einem großen Glücksgefühl ergriffen. Er weiß, dass er die Rettung Alice verdankt, seinem Engel.

In alten Schriften, etwa in "Der Hirte des Hermas" aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert, wird erzählt, jedem Menschen seien zwei Engel beigesellt, "einer der Gerechtigkeit und einer der Schlechtigkeit". So wäre also Alice der gute Engel, der Brydon von dem bösen Engel seines ihm selbst verhassten anderen Ichs befreit hätte.

Henry James war von Swedenborg beeinflusst. Die Familie James, darunter der Theologe Henry James Sr. sowie der als Philosoph berühmt gewordene Bruder William, rechnete sich zu den Swedenborgianern, denen noch heute mehrere tausend Gläubige angehören. In Cambridge (Massachusetts) zum Beispiel steht die Swedenborg Chapel.

Menschen und Geisterwelt

Emanuel Swedenborg (1688 bis 1772), zunächst als Naturwissenschaftler und Erfinder zu einigem Ruhm gekommen, entwickelte nach und nach ein theosophisches System, wonach "bei jedem Menschen wenigstens zwei Geister und zwei Engel sind; durch die Geister entsteht eine Gemeinschaft des Menschen mit der Geisterwelt und durch die Engel mit dem Himmel." Er selbst hatte offenbar zu beiden Welten gute Kontakte. Diese Fähigkeit, so sagt er, sei ursprünglich allen Menschen zugutegekommen: "Der Mensch ist vom Herrn so geschaffen, dass er, während er im Leibe lebt, zugleich mit Geistern und Engeln reden könnte, wie es denn auch in den ältesten Zeiten geschehen ist; weil aber die Menschen in der Folgezeit sich so ins Leibliche und Weltliche versenkt haben, dass sie sich fast um nichts anderes mehr bekümmern, so ist der Weg verschlossen worden."

Dass die Toten noch unter uns sind, in welcher Gestalt auch immer, daran erinnert der Tag Allerseelen.

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