Neueren Umfragen zufolge glauben mehr Deutsche, dass es Engel gibt, als dass es Gott gibt. Nun gilt auch hier die alte Regel "Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast." Und doch scheint mir das Ergebnis plausibel.
An Gott zu glauben, ist ein ernster Schritt mit unabsehbaren Konsequenzen. Der Engelsglaube hingegen nimmt sich vergleichsweise harmlos aus. Vielleicht hat der Gläubige die alten Legenden im Gedächtnis oder die kleinen Bilder, die man früher zur Erstkommunion geschenkt bekam und die man ins Gesangbuch steckte. Sie zeigten etwa den Schutzengel, der das kleine Mädchen auf einem schmalen Steg sicher über den Wildbach geleitet.
"Ein jeder Engel ist schrecklich"
Dass Engel hilfsbereite Erscheinungen sind, kommt in alltäglichen Redewendungen zum Ausdruck, am deutlichsten vielleicht in einem Dankesruf wie "Du bist ein Engel!" Und hier begegnen wir der ersten Merkwürdigkeit, denn zumeist dürfte es sich bei der so angesprochenen Person um eine Frau handeln, um die Mutter vielleicht oder die Geliebte. Doch das Geschlecht der Engel, wenn sie überhaupt eins haben, kennen wir nicht. Und wir wissen ebenfalls nicht, ob die Engel so nett sind, wie der Volksglaube es gerne hätte. Das ist die zweite Merkwürdigkeit: unser Zutrauen in die Liebenswürdigkeit der Engel. Rainer Maria Rilke jedenfalls, in dessen Werk die Engel eine wichtige Rolle spielen und der sie vielleicht sogar gekannt hat, gelangt in seiner ersten "Duineser Elegie" zu dem apodiktischen Satz: "Ein jeder Engel ist schrecklich."
In der Tat bestätigen nicht wenige Passagen der Bibel Rilkes Urteil. Im zweiten "Buch der Könige" (19,35) heißt es: "In jener Nacht zog der Engel des HERRN aus und erschlug im Lager der Assyrer hundertfünfundachtzigtausend Mann." Und im "Buch der Richter" erscheint der Engel einem Mann namens Manoach und verkündet ihm, seine unfruchtbare Frau werde ein Kind gebären. Manoach fragt ihn nach seinem Namen. Er entgegnet: "Warum fragst du nach meinem Namen? Er ist wunderbar." (Ri 13, 16-18) In manchen Übersetzungen heißt es, mein Name ist "zu wunderbar" oder "er ist unbegreiflich für dich". Die Antwort des Engels enthält also eine Warnung: Frage nicht nach meinem Namen, er könnte dich erschrecken.
Die einschlägigen Bibelstellen lassen meistens absichtlich offen, ob der Engel nur ein Sendbote ist oder gar Gott in verhüllter Gestalt. Aber selbst die berühmteste Erscheinung eines Engels, der die Geburt des Erlösers verkündet, hat neben der freudvollen Seite auch eine erschreckende: "Da trat ein Engel des Herrn zu ihnen und die Herrlichkeit des Herrn umstrahlte sie und sie fürchteten sich sehr." (Lk 2,9)
Im Lauf der Geschichte werden die Engel immer lieblicher, bis sie am Ende als schalkhafte Knäblein erscheinen, wie man sie am unteren Bildrand von Raffaels "Sixtinischer Madonna" sehen kann.
Die Frage, ob Engel reine Geistwesen sind oder ob sie auch einen Körper haben, hat die Theologen lange beschäftigt. Thomas von Aquin gelangt am Ende seiner Abhandlung zu dem Schluss: "Ergo plures angeli possunt esse in uno loco." (Folglich können mehrere Engel am selben Ort sein.) Der englische Dichter und Philosoph John Milton war anderer Meinung. In seinem Werk "Paradise Lost", erschienen 1667, erhält Adam Besuch von Raphael, der hier nicht bloß Erzengel ist, sondern ein Serafim mit sechs Flügeln. Grund des Besuchs: Der Satan hat sich heimlich Zutritt zum Garten Eden verschafft, und Gott schickt Raphael, um Adam und Eva vor ihm zu warnen. Nach hergebrachter Rollenzuweisung hat Eva ein Mahl zubereitet, und man setzt sich zu Tisch. In der Übersetzung von Hans Heinrich Meier (erschienen bei Reclam) heißt es: "So ließen sie / Sich nieder, und sie aßen; und der Engel, / Nicht augenscheinlich oder mystisch nur / Wie es die Theologen haben wollen, / Sondern mit Hungers echtem, scharfem Zahn, / Der auch Verdauungshitze sich erzeugt…"
Das Merkwürdigste aber ist der Niedergang des Engelsbildes. Nach dem Sündenfall bestimmt Gott die Cherubim zu Wächtern des Paradieses. Man kann ihr Bild in normannischen Kathedralen sehen, etwa in Monreale auf Sizilien. Es sind gebieterische, machtvolle Gestalten. Im Lauf der Geschichte jedoch werden die Engel immer lieblicher, bis sie am Ende als schalkhafte Knäblein erscheinen, wie man sie am unteren Bildrand von Raffaels "Sixtinischer Madonna" sehen kann.
Die Theologen haben das Universum der Engel selten systematisch durchdacht und ausgearbeitet, mit Ausnahme des Kirchenvaters Pseudo-Dionysius Areopagita, der Ende des fünften Jahrhunderts seine Schrift "Über die himmlische Hierarchie" verfasst hat. Die mittelalterlichen Darstellungen der "neun Chöre der Engel" waren davon beeinflusst. Im christlichen Glauben scheinen sie heute eine eher ornamentale Rolle zu spielen. Vielleicht ist das der Grund für ihre anhaltende Beliebtheit. An Engel zu glauben ist tröstlich und schön.