ProjektionenIst Gott barmherzig?

An die Stelle des fordernden und strafenden Gottes ist der liebe Gott getreten. Ich empfinde das als höchst angenehm, denn ich kann mich noch gut an die Schatten der schwarzen Theologie erinnern, die meine religiöse Erziehung verdunkelt haben.

Regen
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In seiner etwa 1920 erschienenen Erzählung "Regen" schildert der englische Schriftsteller W. Somerset Maugham einen Missionar, der nach einem Aufenthalt in London zu seiner Missionsstation in der Südsee zurückkehren will, infolge einer plötzlich verhängten Quarantäne jedoch an der Weiterreise gehindert wird und in einem verregneten Hafen Quartier nehmen muss. Er und seine Frau schließen Freundschaft mit einem weiteren englischen Ehepaar. Man kommt ins Gespräch, und der Missionar berichtet von seiner Arbeit auf den Inseln: "Als wir dort hinkamen, existierte für sie der Begriff der Sünde überhaupt nicht. Diese Menschen waren von Natur aus so verdorben, dass sie nicht dazu gebracht werden konnten, ihre Schlechtigkeit zu begreifen. Wir mussten sie lehren, Sünde in Handlungen zu sehen, die sie für ganz natürlich hielten." Mit drakonischen Mitteln bringt er sie dazu, statt des Lendenschurzes europäische Kleidung zu tragen. Dass Maugham diesen Puritanismus geradezu hasst, zeigt das bitterböse Ende der Geschichte. Schon vorher hatte es geheißen: "Draußen fiel der mitleidlose Regen mit einer grimmigen Feindseligkeit, die schon fast menschlich war."

Vergleichbar der schwarzen Pädagogik gibt es auch eine schwarze Theologie, die den Gläubigen Höllenstrafen androht, wenn sie die kirchlichen Gebote nicht genauestens befolgen. Heute spielt sie nur noch eine geringe Rolle. An die Stelle des fordernden und strafenden Gottes ist der liebe Gott getreten. Ich empfinde das als höchst angenehm, denn ich kann mich noch gut an die Schatten der schwarzen Theologie erinnern, die meine religiöse Erziehung verdunkelt haben. Nein, sie folgte nicht den furchtbaren Dogmen des puritanischen Missionars, und doch war sie gelegentlich etwas bedrückend. Deshalb sah ich im Institut des Fegefeuers eine rettende Lösung, die meinem Sündenkonto gerecht werden mochte. In die Hölle wollte ich naturgemäß nicht, und das Paradies erschien mir sowieso unerreichbar.

Wenn ich die Predigten, die ich in den vergangenen Dezennien gehört habe, richtig zusammenfasse, so zeichnet sich der liebe Gott vor allem durch seine Güte und Barmherzigkeit aus. Auch die Gestalt Jesu ist von einer verzeihenden Liebe geprägt – abgesehen von seltenen Zornesausbrüchen, die sich jedoch nicht gegen reumütige Menschen richten, sondern gegen selbstgerechte.

In der Bibel ist Gott aber nicht immer nett. Kürzlich kam in der Messe die erste Lesung aus dem siebten Kapitel des Buches Ijob. Darin hieß es: "Ist nicht Kriegsdienst des Menschen Leben auf der Erde? / Sind nicht seine Tage die eines Tagelöhners? / Wie ein Knecht ist er, der nach Schatten lechzt, / wie ein Tagelöhner, der auf seinen Lohn wartet. / So wurden Monde voll Enttäuschung mein Erbe / und Nächte voller Mühsal teilte man mir zu. / Lege ich mich nieder, sage ich: / Wann darf ich aufstehn? / Wird es Abend, bin ich gesättigt mit Unrast, bis es dämmert. / Schneller als das Weberschiffchen eilen meine Tage, / sie gehen zu Ende, ohne Hoffnung. / Denk daran, dass mein Leben nur ein Hauch ist! / Nie mehr schaut mein Auge Glück."

Als ich das hörte, als ich mir das Schicksal Ijobs vor Augen hielt, dachte ich: Dieser Gott ist nicht barmherzig. Niemand kann sich auf seine Gunst verlassen, selbst der nicht, der ohne Fehl und Tadel ist. Als ich in der Bibel nachlas, bemerkte ich, dass man die folgenden Zeilen ausgelassen hatte, vielleicht, um die sonntägliche Stimmung der Gottesdienstbesucher nicht allzu sehr zu trüben: "Mein Leib ist gekleidet in Maden und Schorf, / meine Haut schrumpft und eitert."

Was übrigens das Paradies anbelangt, so galt jene Südsee, die der Missionar von ihrer Sündhaftigkeit befreien wollte, lange Zeit als Region der Glückseligkeit. Auch das war eine Projektion.

Aber auch ohne diese unerquickliche Stelle kam mir die Ijob-Passage ausgesprochen düster vor. Sie schien sie zu bedeuten, dass Gott kein Vertragspartner ist, der nach dem Prinzip "do ut des" handelt. Man kann ihn nicht berechnen oder gar ausrechnen. Er entzieht sich dem menschlichen Gedanken des gerechten Tauschs. Die Eigenschaften, die wir ihm zusprechen, sind Projektionen, und ich verstehe gut, dass die heutigen Prediger nicht den Rachegott, sondern den Liebesgott in den Mittelpunkt ihres Nachdenkens stellen. Und trostbedürftig sind wir wohl alle, nicht zuletzt in diesen unheilvollen Tagen. Wobei ich mich oft frage, weshalb nach allen Lesungen gleichlautend "Wort des lebendigen Gottes" angefügt wird. Gibt es da nicht Abstufungen der Verbindlichkeit?

Was übrigens das Paradies anbelangt, so galt jene Südsee, die der Missionar von ihrer Sündhaftigkeit befreien wollte, lange Zeit als Region der Glückseligkeit. Forscher, Schriftsteller, Maler (zum Beispiel Gauguin) haben sich dort niedergelassen, und die amerikanische Ethnologin Margaret Mead hat die Inseln als einen Ort freier Liebe und heiterer Friedfertigkeit beschrieben. Auch das war eine Projektion.

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