Die lapidare Wucht des ersten Buches der Bibel hat schon viele Schriftsteller zum Weiterdichten angeregt. Karl Ove Knausgård verlegt die Geschichte von Noahs Arche in nordische Wälder.

Der englische Schriftsteller Somerset Maugham soll, wie ich kürzlich las, in seinen Anfängen eine Erzählung geschrieben haben, die völlig auf Adjektive verzichtete. Ich weiß nicht, ob der Text je veröffentlicht wurde, aber ich vermute, dass er einen eigentümlichen Charakter besaß. Jeder Satz musste dann so präzise sein, dass er Adjektive nicht mehr benötigte, vor allem jene nicht, die eine modifizierende oder eine schmückende Funktion erfüllen.

Die Genesis ist ein Beispiel für diese Sparsamkeit, und dadurch erhält sie ihre lapidare Wucht. Hier wird nicht schönrednerisch fabuliert, sondern autoritativ und verbindlich etwas mitgeteilt, was keiner Ornamente bedarf. Möglicherweise ist das der Grund dafür, dass manche Texte des Alten Testaments die Schriftsteller immer wieder dazu angeregt haben, sie mit eigenen Fantasien weiterzudichten und umzudichten – wie es etwa John Milton in seinem Epos "Paradise Lost" (1667) gemacht hat oder Thomas Mann in seinem Roman "Joseph und seine Brüder", erschienen 1933 bis 1943.

Zu den zahllosen Fortsetzern hat sich auch der Norweger Karl Ove Knausgård gesellt. In seinem Roman "Alles hat seine Zeit" (2004) erzählt er berühmte Geschichten der Genesis noch einmal: unter anderem den Brudermord, den Kain an Abel beging, die Zerstörung von Sodom und Gomorrha und die Geschichte von Noah.

Die Sintflut umfasst einen erheblichen Raum in dem 637 Seiten umfassenden Buch. Sie ereignet sich in einer Landschaft, die Norwegen zum Verwechseln ähnlich sieht. Dort, hoch in den dicht bewaldeten Bergen, siedelt eine verzweigte Familie von Bauern, darunter Anna, die Erbin eines größeren Hofs. Zu Beginn sehen wir sie, wie sie früh am Morgen die Kühe in den Ställen versorgt. Dann geht sie hinaus – es regnet schon seit Tagen ohne Unterlass – und schaut zu Gipfeln empor, wo sie wie gewohnt die Cherubim mit ihren flammenden Schwertern erblickt. Doch voller Entsetzen bemerkt sie, dass sich die Engel langsam erheben, um im grauen Himmel zu verschwinden.

Sie ahnt: Das ist ein schlechtes Zeichen. In der Tat hört der Regen nicht auf, der Fluss schwillt an, und die Bewohner des Tals müssen Dämme bauen. Da erreicht eine größere Schar von Küstenbewohnern den Hof und bittet um Unterkunft. Sie berichten vom Anstieg des Meeres und der Überflutung ihrer Hafenstadt.

Knausgård erzählt all dies derart eindrucksvoll, dass man nun erst wirklich begreift, was diese Flut bedeutet hat und was eine zweite Flut bedeuten könnte.

Annas Bruder heißt Noah. Er ist Albino und verträgt die Sonne nicht. So lebt er vor allem in der Nacht und denkt über die Ordnung der Dinge nach. Der Einzelgänger siedelt ein gutes Stück höher in den Bergen. Eines Tages befiehlt er seinen drei Söhnen, eine Arche zu bauen. Gott habe ihm das befohlen und auch die Baumaße angegeben. Die Söhne wundern sich, machen sich gleichwohl an die langwierige Arbeit. Mittlerweile steigt die Flut. Die Bauern verlassen ihre Höfe und suchen Schutz auf den Gipfeln. Annas schwangere Tochter gebärt glücklich ein Kind. Als sie vom Wasser umzingelt sind, bemerken sie ein schwarzes Ungetüm, die Arche Noahs. Anna erkennt auf dem Deck ihren Bruder, hält ihm das Enkelkind entgegen und bittet ihn um Rettung. Doch Noah verschwindet und lässt seine Verwandten ertrinken.

Knausgård erzählt all dies derart eindrucksvoll, dass man nun erst wirklich begreift, was diese Flut bedeutet hat und was eine zweite Flut bedeuten könnte. Die in der Bibel vermerkte Zusicherung Gottes, er werde nicht abermals eine solche Strafe verhängen, mag tröstlich sein, doch ob sie auch für den Klimawandel gilt, weiß man nicht.

Ein unerschöpflicher Fundus

Der rote Faden, der die unterschiedlichen Erzählungen miteinander verbindet, ist die Frage, woher die Engel kommen und was aus ihnen geworden ist. Der Roman gibt sich den Anschein eines Sachbuchs und diskutiert die angelogischen Theorien der Kirchenväter. Sind die Engel nur Geistwesen oder haben sie einen Körper?

Knausgård erfindet den Engelforscher Antinous Bellori, der 1584 seine Schrift "Über die Natur der Engel" veröffentlicht habe. Bei seinen Wanderungen durch die Wälder Norditaliens habe er zwei Engel leibhaftig gesehen. Seiner Überzeugung nach hätten sich die Engel zu sehr mit den Menschen eingelassen. Er beruft sich auf die Passage im 6. Kapitel der Genesis, wo es heißt, die Engel hätten die "schönen Menschentöchter" begattet, und daraus seien Riesen hervorgegangen. Dies habe dazu geführt, so Bellori, dass sich die Engel immer mehr vermenschlicht hätten, bis sie außerstande waren, in ihre himmlische Heimat zurückzukehren. Am Ende wurden aus den ehrfurchtgebietenden Gestalten der Genesis die rosigen Knäblein des Rokoko.

In seinen Nacherzählungen spart Knausgård nicht mit Adjektiven, sondern schöpft aus dem Vollen. Abermals sieht man, dass die Bibel nicht nur der Ursprungsort von Glaubenswahrheiten ist, sondern auch der unerschöpfliche Fundus unerhörter Begebenheiten. Sie hat die Künstler aller Zeiten und Länder immer wieder inspiriert. Karl Ove Knausgård wird nicht der letzte bleiben.

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