Das Glockenläuten ist weder theologisch noch liturgisch zwingend erforderlich. Und doch ist es fester Bestandteil der christlichen Tradition geworden.

Wir waren noch Kinder, als uns die Mutter das Gedicht "Die wandelnde Glocke" von Goethe vorlas:

"Es war ein Kind, das wollte nie
Zur Kirche sich bequemen,
Und Sonntags fand es stets ein Wie,
Den Weg ins Feld zu nehmen."

Die Mutter (nicht unsere, sondern die des Gedichts) ermahnt das Kind, dem Ruf der Glocke zu folgen, sonst werde die Glocke es holen. Doch vergeblich: "Das Kind, es denkt: Die Glocke hängt / Da droben auf dem Stuhle" und läuft hinaus "ins Feld". Und nun heißt es:

"Doch welch ein Schrecken! Hinterher
Die Glocke kommt gewackelt.
Sie wackelt schnell, man glaubt es kaum;
Das arme Kind im Schrecken,
Es läuft, es kommt als wie im Traum:
Die Glocke wird es decken."

So dreht sich das Kind um und eilt in die Kirche, von nun an "jeden Sonn- und Feiertag".

Es war nicht so, dass unsere Mutter eine Anhängerin der schwarzen Pädagogik gewesen wäre. Sie wollte uns nicht in Angst und Schrecken versetzen, abgesehen davon, dass wir in jener Zeit brave Kinder waren und sowieso in die Kirche gingen. Das änderte sich später, als wir größer wurden, und da hätte auch Goethes Zeigefinger nichts geholfen.

Damals hörten wir das Gedicht mit einem Gefühl, in dem sich ein Gruseln mit Schadenfreude mischte. Das Bild der hinter dem Kind herwackelnden Glocke, die sich gleich darüber stülpen wird, erregte unseren Beifall umso mehr, als wir wussten: Das würde uns nicht passieren.

Kirche und Glocke

An Weihnachten ging einmal mein Großvater mit mir über den Frankfurter Domplatz, der damals noch ein wüstes Trümmerfeld war. Der Kaiserdom, dem heiligen Bartholomäus geweiht, Schauplatz vieler Krönungen deutscher Kaiser, hatte im Krieg schwer gelitten, doch der Turm hatte ihn nahezu unversehrt überstanden – und mit ihm die berühmte Gloriosa, eine der größten Glocken überhaupt. Sie werde nur an hohen Festtagen geläutet, sagte mein Großvater, weil sie so schwer sei, dass der Turm sonst Schaden nehme. Gleich gehe es los. So standen wir und hörten voller Andacht die gewaltigen Schläge der Glocke, die alles umher in ein machtvolles Beben und Dröhnen verwandelte.

Als ich mich daran erinnerte, fragte ich mich nach dem Zusammenhang von Kirche und Glocke. Er ist ja theologisch nicht zwingend, liturgisch auch nicht, und natürlich gibt es Kirchen, die weder Glocken noch gar einen Glockenturm besitzen. Und doch gehört zu einer richtigen Kirche das Glockengeläut, jedenfalls in unseren Breiten. Im Lauf der Zeit ist es zu einem Teil des kirchlichen Brauchtums geworden, dessen Praxis in zahllosen Gerichtsurteilen geregelt ist.

Normalerweise denkt man nicht über das Läuten nach, doch als ich kürzlich den Roman "Der Glocken Schlag" der englischen Kriminalschriftstellerin Dorothy L. Sayers las, wurde mir klar, wie sehr ich das Thema unterschätzt hatte. Es gibt nämlich den Brauch des sogenannten Wechselläutens, mit den Worten der Autorin: "Die Kunst des Wechsel- oder Variationsläutens ist eine englische Besonderheit und, wie alle englischen Besonderheiten, der übrigen Welt unbegreiflich."

Über die Kunst des Wechselläutens

In dem Roman spielt nicht allein Lord Peter Wimsey, der berühmte Detektiv, den man aus vielen Romanen von Sayers kennt, eine den vertrackten Fall aufklärende Rolle, sondern auch der Pfarrer von Fenchurch, dessen Kirche ein Geläut von acht Glocken besitzt. "Ich wüsste nicht", sagt er, "wer es an Fülle und Klangschönheit mit uns aufnehmen sollte."

Es ist dem Übersetzer Otto Bayer zu danken, dass er den Versuch unternimmt, die Kunst des Wechselläutens begreiflich zu machen:

"Eine Geläute – nicht zu verwechseln mit einem Glockenspiel – besteht aus mehreren, fein aufeinander abgestimmte Glocken, die man vor dem eigentlich Läuten aufschwingt (to ring up), das heißt, man lässt sie immer höher schwingen, bis sie auf dem Kopf stehen. Der Glöckner kann nun mit geringem Kraftaufwand seine Glocke immer wieder aus der Gleichgewichtslage holen und eine volle Drehung vollführen lassen."

Für die Abfolge der Glocken gibt es bestimmte Systeme, die umso komplexer werden, je mehr Glocken im Spiel sind:

"Mindestens ein Mal in neuerer Zeit hat eine achtköpfige Glöcknermannschaft einen Zyklus 'Bob Major' mit sämtlichen 40.320 Wechseln pausenlos und fehlerfrei durchgeläutet. Sie brauchte dafür 17 Stunden, 59 Minuten und 30 Sekunden."

Läuten und Folklore

Der Witz des Romans besteht nun darin, dass die Anordnung der Kapitel an bestimmte Zyklen des Wechselläutens angelehnt ist, so dass der Kriminalfall, um den es geht, ähnlich komplex ist wie das Wechselläuten selber. Das hat mein Lesevergnügen in keiner Weise getrübt, auch wenn ich mich außerstande sehe, die Geschichte nachzuerzählen.

Dorothy L. Sayers lebte von 1893 bis 1957 und war gläubiges Mitglied der anglikanischen Kirche. Ihr Roman hat mir die Bedeutung des Läutens klar gemacht. Dass sie eher folkloristischer Natur ist, macht nichts. Die Folklore hat in der katholischen Kirche – und offenbar auch in der anglikanischen – immer eine große Rolle gespielt.

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