Die meisten Religionen haben eine Innenseite und eine Außenseite. Jene umfasst das Eigentliche des Glaubens, diese äußert sich in seiner Inszenierung. Sie hat ästhetische und politische Implikationen.
Kürzlich zeigte die "Tagesschau" einen Bericht über den Haddsch. Die Pilgerfahrt nach Mekka gehört zu "Fünf Säulen des Islam". Einmal im Leben an ihr teilzunehmen, ist religiöse Pflicht. Von ihr ist nur befreit, wer die finanziellen Mittel nicht aufbringen kann. Nicht allein die einzelnen Stationen des Haddsch sind genau vorgeschrieben – darunter die siebenfache Umrundung der Kaaba, des zentralen Heiligtums – sondern auch die Kleidung: weiße ungesäumte Tücher.
Das sunnitische Saudi-Arabien beherbergt die religiösen Heiligtümer des Islams. Diesen religionspolitischen Trumpf spielt es gegen die schiitischen Länder aus. Zugleich sollen die Bilder der ganzen Welt "Masse und Macht" vorführen, die Masse der Gläubigen und die Macht der muslimischen Religion.
So sah man auf den Bildern die eindrucksvolle Prozession von Zigtausenden weiß gekleideter Gestalten. Jährlich nehmen an dieser Wallfahrt etwa zwei Millionen Menschen teil. Wenige Tage später kam sie abermals in die "Tagesschau", und zwar wegen der ungewöhnlichen Hitze von mehr als 50 Grad, die in Mekka herrschte und zahlreiche Opfer forderte. Mittlerweile ist von 1300 Toten die Rede. Die Schuld wird illegalen Reiseveranstaltern zugeschrieben.
Das sunnitische Saudi-Arabien beherbergt die religiösen Heiligtümer des Islams. Diesen religionspolitischen Trumpf spielt es gegen die schiitischen Länder aus. Zugleich sollen die Bilder der ganzen Welt "Masse und Macht" vorführen, die Masse der Gläubigen und die Macht der muslimischen Religion. Natürlich sind damit auch kommerzielle Interessen verbunden. Das Land profitiert vom Haddsch in vielerlei Hinsicht.
Die Außenseite der Religion spielt auch in der katholischen Kirche eine Rolle. Sie hat sich nie gescheut, ihre Bedeutung durch mächtige Bauten zu illustrieren und das Theatralische ihrer Lehre publikumswirksam zur Schau zu stellen. Der Papst kann gar nicht anders, als der Hauptdarsteller zu sein, der den Segen "Urbi et Orbi" öffentlich erteilt und der auf seinen Weltreisen zum umjubelten Star der Gläubigen wird. Johannes Paul II. hat auf seinen 104 Auslandsreisen 127 Länder besucht. Hansjakob Stehle, seinerzeit ARD-Korrespondent in Rom, nannte ihn den "Eiligen Vater".
Die Liturgie der Messfeier ist ein historisch gewachsenes Kunstwerk, ein dramatisches Ereignis, das nicht im Verborgenen stattfindet, sondern allen zugänglich ist, auch den Zweiflern, auch den Anhängern anderer Religionen.
Auch im religiösen Alltag spielt die Außenseite der Kirche eine wichtige Rolle. Die Liturgie der Messfeier ist ein historisch gewachsenes Kunstwerk, ein dramatisches Ereignis, das nicht im Verborgenen stattfindet, sondern allen zugänglich ist, auch den Zweiflern, auch den Anhängern anderer Religionen. Die Pracht des Ritus, die Choreografie der Zelebranten und Messdiener, die Schönheit ihrer Gewänder, die Inbrunst der Gebete und Gesänge – all dies verfehlt seine Wirkung nicht, und dort, wo es gelingt, sind Innenseite und Außenseite eins geworden.
Wenn ich die Bilder aus Mekka sehe und mir die strengen religiösen Vorschriften vor Augen halte, dann denke ich: Aus dem Christentum ist alles in allem eine liberale, eine bekömmliche Religion geworden. Die Bitte um eine "kommode Religion", mit der Büchners Lustspiel "Leonce und Lena" endet, ist erhört worden. Man kann den Jakobsweg gehen oder es lassen, man kann auch das Fahrrad nehmen oder den Bus. Und wenn eine Pandemie herrscht, dann wird der zuständige Bischof so gnädig sein, mich von der "Sonntagspflicht" ausdrücklich zu befreien. So geschah es während der Corona-Jahre in Hamburg, und die Hamburger Katholiken, sofern eine "Sonntagspflicht" überhaupt in ihrem Bewusstsein war, freuten sich darüber. Stattdessen gab es Online-Messen. Sind sie ein Ersatz?
Zum Glauben gehört das Bekenntnis
Es ist gut, dass die Zeiten einer repressiven religiösen Praxis überstanden sind, und ich bin froh, nicht im Zeitalter der Kreuzzüge leben zu müssen. Auch die Geißlerprozessionen, die im 13. und 14. Jahrhundert fast so etwas wie eine Seuche waren, sind glücklicherweise verschwunden. Und doch bedauere ich, dass die Neigung, sich zu seinem Glauben öffentlich zu bekennen, abgenommen hat. Die begeisterte Kolumne von Alina Rafaela Oehler über den "Blutritt" in Weingarten, den jahrhundertealten Brauch einer gewaltigen Reiterprozession zum Gedenken an das Leiden Christi, betrifft wohl eine Ausnahme.
Täusche ich mich oder waren die Sakramentsprozessionen meiner Kindheit prächtiger und vor allem häufiger als heute? Die Priester trugen früher auch im Alltag eine schwarze Soutane. Auf alten Bildern des Films "Don Camillo und Peppone" (1952) kann man sie noch sehen. Heute sind die Priester auf der Straße nicht mehr als solche zu erkennen. Auch die Kirchgänger nicht. Man zieht sich zum Gottesdienstbesuch nicht anders an als zu einem Spaziergang oder, wie die Touristen in südlichen Domen, zu einem Strandbesuch.
Ein frommer Katholik mag einwenden: Auf solche Äußerlichkeiten kommt es nicht an! Ich jedoch meine, dass die Ausübung des katholischen Glaubens immer auch das öffentliche Bekenntnis verlangt. Es bedeutet, Zeugnis abzulegen, auch wenn es zuweilen schwerfällt.