"Dienstverweigerung"Robert Musil über den Selbstmord

Zwei Notizen aus seinen Tagebüchern zeigen, wie ernst Musil seine Arbeit am "Mann ohne Eigenschaften" genommen hat und wie sehr er gelegentlich am Rand der Verzweiflung war, weil es nicht vorwärtsging.

Ulrich Greiner
© privat

Als ich kürzlich in Musils Tagebüchern stöberte, stieß ich auf diese Eintragung: "Wenn Gott das Geistige durch den Menschen erzeugen und ausbilden will, wenn es irgendwie auf den individuellen Geistesbeitrag ankommt, ist Selbstmord eine Todsünde, eine Dienstverweigerung an den schaffenden Gott."

Robert Musil, 1880 in Klagenfurt geboren, 1942 in Genf gestorben, ist in traditionell katholischen Gegenden aufgewachsen, doch war er, soweit mir bekannt, kein explizit religiöser Mensch. Umso mehr überraschte mich der Satz, Selbstmord sei eine Todsünde. Er findet sich in Heft 30 der Tagebücher, entstanden etwa März 1929 bis November 1941. Wichtig ist die einschränkende Bedingung: unter der Voraussetzung, dass Gott mit Hilfe des Menschen das Geistige erzeugen wolle, verbiete sich der Selbstmord. Ob diese Voraussetzung gegeben ist, dazu äußert sich Musil nicht.

In der übernächsten Notiz allerdings wiederholt sich die Denkfigur: "Wenn man annimmt, daß Gott am MoE odgl. etwas gelegen sein könnte, wenn man diese Tätigkeit so überschätzt, muß man sich töten, wenn sie nicht vorwärtsgeht. Anderseits aber soll man es bei dieser Annahme doch auch nicht tun dürfen!" Das Kürzel "MoE" steht für den "Mann ohne Eigenschaften", Musils Jahrhundertroman, an dem er bis zum Lebensende gearbeitet hat, ohne ihn abschließen zu können.

Die beiden Notizen – eingeleitet mit der Stichzeile "Laientheologie" – hängen miteinander zusammen. Wenn Gott am Geist des Menschen etwas liegt, dann kann ihm die Vollendung des Romans nicht gleichgültig sein. Würde sie misslingen, so träfe den Urheber die Schuld. Er müsste sich töten, weil er die ihm zugewiesene Aufgabe nicht bewältigt hat. Man sieht, wie ernst Musil sein Projekt genommen hat und wie sehr er gelegentlich am Rand der Verzweiflung war, weil es eben nicht vorwärtsging.

Das zeitgenössische Ich arbeitet unermüdlich an der Vervollkommnung und Verwirklichung seiner selbst, und alles, was dem an Hindernissen entgegensteht, verfällt dem Bannspruch der Fremdbestimmung. So gesehen ist Gott ist ein Hindernis.

Entscheidend ist der Gedanke der "Dienstverweigerung". Ich vermute, dass er unverständlich geworden ist. Denn heute herrscht das Ideal der "Selbstbestimmung". Damit ist die Vorstellung verbunden, es sei dem Menschen nicht zumutbar, Mächten außerhalb seiner selbst – und seien es nur Maßstäbe und Normen – unterworfen zu sein. Das zeitgenössische Ich arbeitet unermüdlich an der Vervollkommnung und Verwirklichung seiner selbst, und alles, was dem an Hindernissen entgegensteht, verfällt dem Bannspruch der Fremdbestimmung. So gesehen ist Gott ist ein Hindernis.

Die Wahrnehmung, dass ich mein Leben nicht mir selbst verdanke, sondern meinen Eltern und in weiterem Sinn jenen Menschen, die mich gefördert haben, an denen ich gewachsen bin, und sei es im Widerspruch, führt zu der Frage, wer denn letztendlich der Urheber des Lebens sei, und wenn ich die Antwort "der Zufall" für unbefriedigend halte, weil sie eigentlich keine Antwort ist, bleibt mir nur die Erkenntnis, dass alles, was ich bin, eine Gabe Gottes ist. Insofern bin ich ihm zu einer Art "Dienst" verpflichtet, da hat Musil völlig recht. Und der "Selbstmord" ist und bleibt eine Dienstverweigerung.

Ich ziehe den Begriff Suizid vor, weil von "Mord" in vielerlei Hinsicht nicht die Rede sein kann, übrigens auch nicht von "Freitod". Menschen, die ihrem Leben ein Ende setzen, tun dies selten so wie die legendäre Gestalt des Sokrates, also freiwillig und bei klarem Bewusstsein. Meist sind sie von Unglück oder Krankheit oder seelischer Not Getriebene, die auf Zuspruch und Hilfe angewiesen sind.

Alles Leben ist eins

Im Gegenteil jedoch ist der Suizid heutzutage oftmals von einer heroischen Aura umgeben. In ihm findet der Gedanke der Selbstbestimmung seinen radikalsten Ausdruck. "Mein Leben gehört mir", lautet die Devise. Reinhold Schneider hat in seinem Essay "Über den Selbstmord" (1946) geschrieben: "Der Selbstmord scheint eine Handlung letzter persönlicher Freiheit zu sein, die dem Menschen nicht genommen werden kann. Er verfügt über sein Leben; er gibt, wie ein Jüngling in einem Romane Dostojewskis einmal sagt, 'seine Eintrittskarte zurück'. Aber schon die Wendung von der Eintrittskarte läßt uns stocken. Hat sie der Mensch denn bezahlt? Und vom wem hat er sie empfangen?"

Einige Seiten später gelangt Schneider zu seinem zentralen Argument: "Der Selbstmord – scheinbar das persönlichste, nur gegen das Ich gerichtete Vergehen – ist in Wahrheit nicht auf das Subjekt beschränkt. Alles Leben ist eins; der sein eigenes Leben nicht achtet, verletzt das Leben überhaupt und empört sich gegen Den, der alles Leben gegeben hat. Der Selbstmörder trägt etwas Entsetzliches in die Welt, etwas, das nicht in ihr sein soll und das ihre Ordnung bedroht."

In einer Zeit, da ein vollkommen irregeleiteter fanatischer Islamismus seine Anhänger dazu einlädt, den religiösen Feind unter Aufopferung des eigenen Lebens zu bekämpfen, sollte man sich solche Worte, auch wenn sie einigermaßen fremd in der säkularen Landschaft stehen, vor Augen halten.

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