Was beweist ein Wunder?Sibylle Lewitscharoff und der Flug der Einbildungskraft

In ihrem Roman "Das Pfingstwunder" schildert Sibylle Lewitscharoff die kollektive Verzückung und Entrückung der Teilnehmerschaft einer Dante-Tagung. Der Erzähler, dem es an Begeisterungsfähigkeit mangelt, bleibt verstockt zurück. Heute vor einem Jahr ist die Schriftstellerin verstorben.

Sibylle Lewitscharoff
© Harald Oppitz/KNA

Pfingsten, "das liebliche Fest", wie Goethe es genannt hat, ist frei von irdischer Drangsal. Es erinnert nicht an schicksalshafte Ereignisse wie Geburt oder Tod, sondern es erfordert und fördert den Flug der Einbildungskraft – einen Flug, der sich hinaufschwingt in Höhen, die uns Sterblichen in der Regel unzugänglich sind.

Von einer solchen Sensation, die den allerersten Christen widerfahren ist, berichtet die Apostelgeschichte, und von einer ähnlichen erzählt der Roman "Das Pfingstwunder" (2016) von Sibylle Lewitscharoff. Er ist eine Art Gottesbeweis. Doch anders als die berühmten und strittigen philosophischen Versuche, die Existenz Gottes zu beweisen, legt die Autorin eine literarische Beweisführung vor. Ihre Pointe ist ein ebenso unwahrscheinliches wie plastisch beschriebenes Wunder. Just in dem Augenblick, da die Glocken des Petersdoms das Pfingstfest einläuten, werden die Teilnehmer einer wissenschaftlichen Dante-Tagung in Rom von einer Verzückung ergriffen. Sie sind internationaler Herkunft, ob aus Schweden oder Argentinien, China oder Korea, und sie reden plötzlich kein Konferenz-Englisch mehr, sondern jeweils in ihrer Muttersprache, und doch verstehen sie einander vollkommen. Berauscht erklimmen sie die Fensterbänke des Sitzungssaals und fliegen hinauf in den römischen Abendhimmel.

Ein Wunder, streng genommen, beweist gar nichts. Das ist dem Berichterstatter dieser Geschichte sehr wohl bewusst. Und doch ist der 62 Jahre alte Danteforscher Gottlieb Elsheimer von dem "Vorkommnis", wie er es nennt, tief verstört. "Wunder in seinem radikal emphatischen Sinn nehme ich ungern in den Mund. Es ist mir zu groß. Wenn ich Wunder sage, komme ich mir verloren vor." Aber was war es, wenn nicht ein Wunder? Gottlieb Elsheimer, Ordinarius in Frankfurt am Main, trägt nicht zufällig denselben Nachnamen wie der berühmte, aus Frankfurt stammende Maler Adam. Doch anders als dieser ist er ungläubig.

Gleich zu Beginn bekennt er, dass er den Kinderglauben an Jesus und den Himmel längst verloren habe. Behalten hat er allerdings seinen Sinn für Gerechtigkeit: "Ist es etwa gerecht, dass an so vielen Orten der Welt die Menschen auf übelste Weise verrecken, dass sie verhungern, vergast, erschossen, erschlagen, aufgeschlitzt oder gefoltert werden bis zum Wahnsinn? Und Gott schaut einfach zu?" Das ewige Problem der Theodizee lässt ihn nicht los, und die Hoffnung der Gläubigen auf eine Wiedergutmachung im Jenseits kommt ihm lächerlich vor.

Eine schräge Konstruktion

Damit allerdings nimmt er seinen Dante nicht ernst genug, geht es doch in der "Commedia" genau darum: um die Belohnung der Guten im Himmel und die Bestrafung der Bösen in der Hölle. Elsheimers Mangel an Dantevertrauen, an Nachfolgebereitschaft, an Begeisterungsfähigkeit führt dazu, dass er verstockt dahockt, während sich die Kollegen von Dantes Visionen packen lassen und davonfliegen. Wo sind sie? Und weshalb war er als einziger von 34 Kongressteilnehmern der Himmelfahrt nicht würdig?

Es ist eine ziemlich schräge Konstruktion, die sich Sibylle Lewitscharoff ausgedacht hat. Aber sie ist nicht schräger als die von Dante. Seine "Komödie", die erst später den Beinamen "göttlich" erhielt, entwirft eine gewaltige fantastische Gegenwelt. Das 1321 vollendete Werk umfasst einen Prolog sowie dreimal 33 Gesänge mit insgesamt 14233 Versen, gebündelt in gereimte Dreizeiler – die von Dante erfundene Terzine.

Und so, wie sich Dante von dem großen Vergil in die spiralförmigen Windungen des "inferno" hinabführen lässt, so folgt Sibylle Lewitscharoff dem großen Dante in die Hölle und dann hinauf auf den Läuterungsberg. Auch sie schert sich wenig um Wahrscheinlichkeiten.

"Das Pfingstwunder" steht in der Tradition der lehrhaften, traktathaften Literatur. Weil Lewitscharoff mit größter Leidenschaft und Liebe die teils grandiose, teils finstere Landschaft der "Commedia" vor uns ausbreitet, folgen wir ihr mit Vergnügen.

Lebhaft diskutiert sie theologische Fragen wie etwa die, weshalb Vergil auf dem Gipfel des Purgatoriums verabschiedet wird. Ins "paradiso" darf er nicht, weil er kein Christ ist. Aber dafür kann er doch nichts, oder? Es entgeht ihr auch nicht, dass sich der Dichter gottähnliche Macht anmaßt, indem er seinen Zeitgenossen, je nach dem Grad ihrer Verfehlung, die Strafen zuweist. Am ärgsten finde Dante den Verräter, denn im Verrat stecke "das spitzfindig Böse, das geplante Böse". Und doch könne Verrat – siehe Stauffenberg, siehe Edward Snowdon – notwendig werden, sagt sie völlig zu Recht.

"Das Pfingstwunder" steht in der Tradition der lehrhaften, traktathaften Literatur. Weil Lewitscharoff mit größter Leidenschaft und Liebe die teils grandiose, teils finstere Landschaft der "Commedia" vor uns ausbreitet, folgen wir ihr mit Vergnügen. "Das Pfingstwunder" fügt dem Pfingstwunder eine animierend neue Lesart hinzu.

Sibylle Lewitscharoff, geboren 1954 in Stuttgart, Autorin von neun Romanen und vielen Essays, hat die bedeutendsten literarischen Auszeichnungen erhalten, ob Bachmann-Preis, Kleist-Preis oder Georg-Büchner-Preis. Vor genau einem Jahr, am 13. Mai 2023, ist sie in Berlin gestorben.

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