Die Heilige, die nicht getauft werden wollteSimone Weil, der Pazifismus und die Suche nach Wahrheit

Erst wollte sie den Krieg verhindern, dann nannte sie ihren Pazifismus einen "verbrecherischen Irrtum": Simone Weil war radikal in Denken, Fühlen, Leben. Sie stellt bis heute drängende Fragen an unser Gewissen.

Simone Weil im Jahr 1942
Simone Weil im Jahr 1942© gemeinfrei/Wikimedia Commons

Die schöne Idee des Pazifismus hat immer wieder schmerzliche Niederlagen erlitten, und eine davon schildert der Schriftsteller Wolfgang Matz in seinem Essay "Rückblick auf den Pazifismus" in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Darin geht es um die französische Philosophin Simone Weil. 1937 schreibt sie den Essay "Beginnen wir nicht noch einmal den Trojanischen Krieg" und radikalisiert ihre pazifistische Haltung, indem sie sagt, der Krieg könne dadurch verhindert werden, dass man dem Aggressor freiwillig jene Zugeständnisse mache, die er durch einen Krieg zu erlangen hoffe: "Man würde ihm ohne Krieg das Äquivalent eines Sieges geben. Das wäre eine nationale Erniedrigung? Ja, das wäre eine nationale Erniedrigung. Na und?"

Doch wenig später begreift Simone Weil, dass der Trojanische Krieg eben doch stattfindet, dass die Tschechoslowakei verloren ist und bald auch Frankreich und dass der unersättliche Kriegstreiber Hitler nicht durch Zugeständnisse zu sättigen ist. Sie nennt ihren früheren Pazifismus einen "verbrecherischen Irrtum".

Es ist klar, worauf Matz mit dieser historischen Parallele hinauswill, obwohl man natürlich fragen kann, wie weit historische Parallelen führen. Die Frage jedoch, wer eigentlich diese Simone Weil war, beschäftigt ihn nicht. Sie ist ja auch nicht das Ziel seiner Überlegungen.

Irgendwie war mir der Name schon einmal begegnet. Plötzlich erinnerte ich mich an ein nahezu ungelesenes Buch in meinen Regalen: "Simone Weil – Zeugnis für das Gute", erschienen bei dtv 1990. Es enthält Traktate, Briefe und Aufzeichnungen, herausgegeben und übersetzt von Friedhelm Kemp.

1909 in Paris geboren, entstammte sie einer großbürgerlichen jüdischen Familie. Schon früh trug sie die Merkmale des hochbegabten Kindes: extrem sensibel und reizbar, geradezu rebellisch, zugleich erfüllt von einer rasenden Wissensbegierde. Und diese erstreckte sich nicht allein auf die großen Philosophen, sondern ebenso auf das Leben der Armen und der Entrechteten. Sie verdingte sich als Arbeiterin bei Renault, sie identifizierte sich, als sie im Londoner Exil lebte, mit den im Krieg hungernden Franzosen und hungerte selbst. 1943 starb sie an Tuberkulose.

1942 schreibt sie in einem Brief an den Dominikanerpater Jean-Marie Perrin: "Ich habe das tiefinnere Bedürfnis, ich glaube sagen zu dürfen: die Berufung, mein Leben unter den Menschen so hinzubringen, dass ich mich durch nichts von ihnen unterscheide, dass ich ihre Farbe annehme – zumindest in dem vollen Ausmaße, als das Gewissen sich dem nicht widersetzt –, dass ich unter ihnen verschwinde, und zwar, damit sie sich so zeigen, wie sie sind und ohne sich mir gegenüber zu verstellen; weil ich sie kennenlernen möchte, um sie so zu lieben, wie sie sind. Denn wenn ich sie nicht liebe, so wie sie sind, dann liebe ich nicht sie, und meine Liebe ist nicht wahr."

Perrin hatte sie dazu bewegen wollen, sich taufen zu lassen. Sie fühlt sich dessen unwürdig und schreibt: "Ist es Gottes Wille, dass ich in die Kirche eintrete, so wird er mir diesen Willen in genau dem Augenblick auferlegen, in dem ich es verdiene, dass er ihn mir auferlegt."

Sie nennt aber noch einen weiteren Grund: "Es hat Heilige gegeben, die die Inquisition, die Kreuzzüge gebilligt haben. Ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, dass sie Unrecht gehabt haben. Wenn ich glaube, dass ich in einem Punkte klarer sehe als sie – ich, die so unendlich unter ihnen steht –, dann muss ich annehmen, dass sie bezüglich dieses Punktes von etwas sehr Mächtigem verblendet worden sind. Dieses Etwas ist die Kirche als soziale Einrichtung. Wenn diese soziale Einrichtung ihnen geschadet hat, welchen Schaden würde sie mir erst zufügen, die ich durch soziale Einflüsse in besonderem Grade verletzbar und beinahe unendlich schwächer bin als sie!"

Wenn ich die Maximen und Reflexionen lese, die sie in ihren "Cahiers" notiert hat, dann sehe ich ihre radikale Suche nach Wahrheit und Reinheit, ihre Unbedingtheit, ihre Unerschrockenheit. Einmal schreibt sie: "Gott ist nicht allmächtig, weil er Schöpfer ist. Die Schöpfung ist Abdankung. Aber er ist allmächtig dadurch, dass seine Abdankung freiwillig ist."

Beim weiteren Herumstöbern stieß ich auf Heinrich Böll. 1979 bemerkt er über Simone Weil: "Die Autorin liegt mir auf der Seele wie eine Prophetin; es ist der Literat in mir, der Scheu vor ihr hat; es ist der potenzielle Christ in mir, der sie bewundert, der in mir verborgene Sozialist, der in ihr eine zweite Rosa Luxemburg ahnt; der ihr durch seinen Ausdruck mehr Ausdruck verleihen möchte. Ich möchte über sie schreiben, ihrer Stimme Stimme geben, aber ich weiß: Ich schaffe es nicht, ich bin ihr nicht gewachsen, intellektuell nicht, moralisch nicht, religiös nicht. Ich habe Angst vor ihrer Strenge, ihrer sphärischen Intelligenz und Sensibilität, Angst vor den Konsequenzen, die sie mir auferlegen würde, wenn ich ihr wirklich nahekäme."

So geht es auch mir. Ich bin davon überzeugt: Sie war eine Heilige.

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