Verrat?Von Renegaten und Konvertiten

Es kommt vor, dass Menschen das weltanschauliche Lager wechseln. Solche Übertritte lösen oft Argwohn aus. Zurecht?

Ulrich Greiner
© privat

In privater Runde empörte sich kürzlich eine Freundin über manche Abgeordnete, die der Partei, für die sie gewählt worden waren, den Rücken kehrten, um sich einer anderen anzuschließen. Was sei daran verwerflich, fragte jemand. Es handele sich um eine Gewissensfrage, die der Mandatsträger für sich allein entscheiden dürfe. Im Übrigen, fügte er spöttisch hinzu, seien die Unterschiede zwischen den demokratischen Parteien (also abgesehen von der AfD) nicht allzu groß. Ob jemand für die CDU oder die FDP im Parlament sitze, kümmere doch im Ernst kaum jemanden.

Darum gehe es ihr nicht, wehrte sich die Freundin. Sie könne Menschen kein Vertrauen schenken, die heute linke Anschauungen verträten und morgen rechte. Wer seiner Grundüberzeugung nicht treu bleibe und sie je nach Laune und Lage wechsele, sei lediglich ein Opportunist.

Nun entspann sich eine erregte Debatte, in der von Renegaten und Konvertiten, von Ketzern und Häretikern die Rede war. Es dauerte nicht lange, bis der Begriff des Verräters auftauchte. Ist jemand, der aus gewandelter Überzeugung seine Gesinnungsgemeinschaft verlässt und sich einer anderen anschließt, ein "Verräter"? Wer dürfte ihn und mit welchem Recht so verunglimpfen? Darum ging der Streit, der naturgemäß ohne Resultat endete.

Von links nach rechts

Als ich nach Hause kam, fiel mir etwas ein, und zwar Michael Rohrwassers grundlegende Studie "Der Stalinismus und die Renegaten – Die Literatur der Exkommunisten", erschienen 1991. Dort zitiert er das Diktum von Montesquieu: "Eine Regierung braucht nur unbestimmt zu lassen, was Verrat sei, und sie wird zur Despotie."

Auffällig ist Rohrwassers Beobachtung, dass sich die prominentesten Konversionen von links nach rechts vollzogen. Berühmte Intellektuelle und Schriftsteller, ob Manès Sperber, Ignazio Silone oder Arthur Koestler, waren ursprünglich Anhänger des Kommunismus und widerriefen unter dem Eindruck des Terrors ihre Grundüberzeugung.

Es ist kein Zufall, dass Biermann auf das Katholische kommt. Denn der Kommunismus war im Wesentlichen eine ins pure Diesseits gewendete Heilsprophetie. Sie war es, die namhafte Intellektuelle in ihren Bann gezogen und eine unübersehbare Diskussion über die Renegaten nach sich gezogen hat.

In einem Gespräch, das ich 2006 mit Wolf Biermann in Hamburg führte, fragte ich ihn, weshalb er als Sechzehnjähriger in die DDR gegangen sei und weshalb er so lange an ihr festgehalten habe. Seine Antwort: "Weil ich so geprägt worden bin. Ich komme aus einer 'katholischen' Familie, und das Wort katholisch heißt bei mir kommunistisch. Ich glaubte an den lieben Gott, und das war bei mir Karl Marx. Mein Vater war als Märtyrer auf dem Scheiterhaufen verbrannt, und der Scheiterhaufen hieß bei mir Auschwitz. Und meine Mutter Emma hatte ihren Privatkrieg mit Herrn Hitler. Nachdem ihr geliebter Mann und Genosse abgeschlachtet war, als Kommunist und als Jude, nachdem die ganze jüdische Familie in die Grube geschossen war, hatte sie den Ehrgeiz, ein Kind heranzuziehen, das seinen Vater, wie sie es kindlich nannte, rächen sollte."

Es ist kein Zufall, dass Biermann auf das Katholische kommt. Denn der Kommunismus war im Wesentlichen eine ins pure Diesseits gewendete Heilsprophetie. Sie war es, die namhafte Intellektuelle in ihren Bann gezogen und eine unübersehbare Diskussion über die Renegaten nach sich gezogen hat.

Dramatische Konflikte

Parallel dazu hat es im vergangenen Jahrhundert eine in mancher Hinsicht ähnliche Bewegung gegeben: die von Schriftstellern, die zum Katholizismus konvertiert sind. Unter den deutschen waren es Werner Bergengruen, Edzard Schaper, Alfred Döblin und Ernst Jünger; unter den englischen Gilbert Keith Chesterton, Graham Greene und Evelyn Waugh. Und 1924 ist die Norwegerin Sigrid Undset, Nobelpreisträgerin für Literatur, konvertiert. Wie auch Jon Fosse, der 2023 den Nobelpreis bekam.

Bei Wikipedia gibt es die "Liste von Konvertiten zur römisch-katholischen Kirche". Wie sie zustande kam, weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, wie viele Katholiken zu anderen Religionen konvertiert sind. Wahr ist jedenfalls, dass solche Übertritte den Anschein des Verdächtigen nie wirklich losgeworden sind. Das gilt vor allem für die Renegaten, die ihre politische Heimat im Lager des ehemaligen Feindes gesucht haben. Oftmals sind sie geschmäht und verfolgt worden. Das war und ist bei den Konvertiten im christlichen Raum nicht in gleicher Weise der Fall, zumal der Unterschied zwischen einem Katholiken und einem Protestanten nicht so gravierend ist wie der zwischen einem Kommunisten und einem Antikommunisten.

Und doch: Man erinnere sich an die dramatischen Konflikte, die sich aus den sogenannten Mischehen ergaben. Meine Urgroßmutter, so lautet eine stets wiederholte Familiensage, wurde enterbt, weil sie der Heirat wegen zum Katholizismus konvertierte (konvertieren musste), also zum Feind übertrat. Hätte sie, die Tochter eines Fabrikanten, erben können, so erzählte man sich, wäre sie reich gewesen – und wir mit ihr. Leider ist es wahr, dass die Kirche in ihrem Bemühen, die Einheit des Glaubens zu erhalten, die Nomenklatur abweichendes Verhaltens geprägt und Verstöße mit ihren jeweiligen Mitteln sanktioniert hat.

Die oben zitierte Freundin, so vermute ich, würde von ihrem Vorwurf, jemand verrate seine Herkunft und Heimat, wenn er widerrufe, nicht abrücken. Denn der Verrat, wenn man genau hinschaut, lauert immerzu und überall.

F. W. Bernsteins berühmter Aphorismus "Die größten Kritiker der Elche waren früher selber welche" hat, wie alle guten Aphorismen, eine sehr ernste Seite.

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