Ist die Heilige Schrift tatsächlich selbsterschließend? Genügt allein das Wort, wie es die protestantische Tradition behauptet? Oder ist nicht doch der katholische Zugang lebensnäher, der den lesenden Laien das Lehramt und die Expertise professioneller Interpreten zur Seite stellt?

Als ich noch häufiger auf Dienstreisen unterwegs war, fand ich in der Nachttischschublade meines Hotels oftmals eine Bibel, gestiftet vom Gideonbund. Der Verein, dem protestantische und freikirchliche Christen angehören, hat es sich zum Ziel gesetzt, das Evangelium dadurch zu verbreiten, dass man Bibeln in Krankenhäusern und Hotels deponiert. Mehr als 25 Millionen Exemplare wurden bislang verteilt. Die dunkelblauen Bände enthalten das Neue Testament sowie die Psalmen und Sprüche.

Ich gestehe, dass ich höchst selten davon Gebrauch gemacht habe. Ich war nie ein Bibelleser. Im Religionsunterricht haben wir die Evangelien nur kursorisch gelesen und das Alte Testament allenfalls in kleinen Auszügen, ähnlich jenen kurzen Passagen, die man während der Heiligen Messe bei der ersten Lesung zu hören bekommt. In der Hauptsache beschäftigten wir uns, wenn ich mich recht erinnere, mit dem Katechismus und später dann mit Fragen der Ethik.

Konfessionelle Unterschiede

Die Kenntnis der alttestamentarischen Texte war unter Katholiken nie sehr verbreitet, auch dann noch nicht, als Luther seine Heldentat vollbracht und die gesamte Bibel ins Deutsche übersetzt hatte. Davor musste, wer sie unbedingt lesen wollte, Lateinisch können.

Die katholische Kirche hat immer darauf bestanden, dass die Auslegung der Bibel samt ihren zuweilen dunklen Passagen nicht allein Sache des unbewanderten Laien sein könne, sondern dass ihm das kirchliche Lehramt beistehen müsse.

In der protestantischen Welt war das anders. Sie folgte der Lehre Luthers, allein die Schrift (sola scriptura) gebe Auskunft über das göttliche Wirken. Nur durch ein stetiges Studium der Bibel sei der Christ imstande, Sinn und Wesen der Heilsbotschaft zu erfahren. Die katholische Kirche hingegen hat immer darauf bestanden, dass die Auslegung der Bibel samt ihren zuweilen dunklen Passagen nicht allein Sache des unbewanderten Laien sein könne, sondern dass ihm das kirchliche Lehramt beistehen müsse. Dessen Ratschluss, wie man die Bibel zu verstehen habe, sei maßgeblich.

Diese Differenz erklärt die unterschiedliche Bedeutung, die der biblischen Lektüre in den Konfessionen zukommt. Mir fiel das auf, als ich die Tagebücher von Julien Green las. Von einer puritanischen Mutter erzogen, hat er sich schon in jungen Jahren täglich der Bibellektüre gewidmet, und er hat diese Praxis auch nach seiner Konversion zum Katholizismus beibehalten. Im November 1955 notiert er: "Ich bin Katholik, aber in den Augen gewisser Katholiken verdächtig, weil ich die Bibel lese."

Tägliche Bibellektüre unter Wohlerzogenen

Green, in Paris geboren, entstammte einer ehemals wohlhabenden Familie aus dem amerikanischen Süden, die nach ihrem finanziellen Niedergang in Frankreich ein neues Leben begann. Ende der Achtzigerjahre (da war er, Jahrgang1900, selbst schon Ende Achtzig) schrieb er die Südstaaten-Trilogie "Dixie". Die Geschichte beginnt kurz vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs. In den wohlhabenden Pflanzerfamilien war es eine selbstverständliche und oft auch gern befolgte Pflicht, täglich die Bibel zu lesen. In ihr fand man die Weisungen für das richtige Leben und Trost in schweren Stunden.

Darin unterschieden sich die protestantischen Amerikaner nicht von ihren europäischen Landsleuten. In den großen englischen Romanen von Jane Austen bis Charles Dickens und George Eliot spielt die tägliche Bibellektüre unter wohlerzogenen Menschen eine ähnliche Rolle wie das Essen mit Messer und Gabel. So gesehen esse ich immer noch mit den Fingern.

"Wort des lebendigen Gottes", heißt es nach den Lesungen. Gottes Wort ist nicht immer leicht zu verstehen. Und "sola scriptura" stellt mich vor ernste Probleme. Im Grunde billige ich die Weisheit der katholischen Kirche, die ihre Gläubigen mit der Bibel nicht allein lässt.

"Sola scriptura" stellt vor Probleme

In frühen Jahren dachte ich, wenn ich überhaupt darüber nachdachte: Das Alte Testament ist die Bibel der Juden, das Neue die Bibel der Christen. Seitdem ich endlich begriffen habe, dass diese Aufteilung sinnlos ist, habe ich öfter versucht, das Alte Testament mit einer ähnlichen Inbrunst zu lesen wie die erwähnten Romanhelden. Aber Erleuchtung oder gar Trost habe ich selten daraus gewonnen. Zwar bewunderte ich den literarischen Reichtum der Texte, ihre sprachliche Schönheit und Vielfalt. Ich staunte darüber, dass es Menschen gab und gibt, die sich von den rätselhaften Passagen, von ihren Widersprüchen und scheinbaren Absurditäten nicht abschrecken ließen.

Was, so fragte ich mich, ist das Gemeinsame, das die Psalmen mit den Königsbüchern verbindet, die Genesis mit dem Buch Hiob, das Hohelied mit dem Klagegesang der Propheten? Der Tonfall der Texte, ihre Temperatur, ihre Zielsetzung – all das variiert auf eine ebenso faszinierende wie verstörende Weise. Sicherlich ist es ein Fehler, vielleicht sogar ungehörig, die Bibel so zu lesen, als wäre sie ein Sachbuch. Sie besteht ja aus vielen Büchern, die in einigen Jahrhunderten entstanden und redigiert worden sind.

"Wort des lebendigen Gottes", heißt es nach den Lesungen. Gottes Wort ist nicht immer leicht zu verstehen. Und "sola scriptura" stellt mich vor ernste Probleme. Im Grunde billige ich die Weisheit der katholischen Kirche, die ihre Gläubigen mit der Bibel nicht allein lässt.

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