Schande oder Auszeichnung?Warum es eine christliche Neubesinnung auf Armut braucht

Vielleicht käme das christliche Gebot der Barmherzigkeit erst dann wirklich zum Ziel, wenn man der Armut eine eigene Würde zuerkennen könnte; wenn man den tatsächlich Armen als Menschen sähe, dem die Nächstenliebe eben deshalb zuteil wird, weil er Mensch ist.

Ulrich Greiner
© privat

Das berühmte Diktum Jesu "Leichter geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt" wird von gleich drei Evangelisten – von Markus, Matthäus und Lukas – im selben Wortlaut überliefert, so dass man annehmen muss, der Satz sei wirklich so gefallen. Er war und bleibt eine Provokation, mit der umzugehen der Kirche nie leicht gefallen ist. Zwar predigt sie seit je die "caritas", die helfende Nächstenliebe, und praktiziert sie aus alter Tradition bis heute.

Anders jedoch als die meisten Mönchsorden mit ihrem Armutsgelöbnis hat sich die Amtskirche der Askese nur selten und ungern verschrieben. Man hat die Armut bekämpft, so gut es eben ging, doch selber in Armut zu leben, das vertrug sich schlecht mit ihrem Selbstbild. Dass der gegenwärtige Papst sich nach dem heiligen Franziskus, dem radikalsten Verteidiger der Armut, benannt hat, bezeugt einen Wandel, von dem einstweilen ungewiss bleibt, wie gründlich und stetig er sein wird.

Die Frage lautet, ob Armut eine Schande sei oder – im Gegenteil – so etwas wie eine göttliche Auszeichnung. In dem Roman "Tagebuch eines Landpfarrers" von Georges Bernanos, erschienen 1936, diskutieren zwei Priester über die Würde der Armut. Jesus, so sagt der eine, habe die Armut geheiligt, und folglich müsste es die Aufgabe der Kirche sein, den Armen die Armut zu predigen. Doch er gesteht, dass er diesen Gedanken nicht ertragen kann, und er sagt: "Lieber würde ich den Armen den Aufstand predigen."

Armut: Auszeichnung oder Schande?

Der Landpfarrer lebt wirklich in größter Armut, doch nimmt er es selbstverständlich hin. Er leidet an Magenschmerzen und ernährt sich in der Hauptsache von Brot und Wein. Mit einem Armenarzt kommt er ins Gespräch. Der sagt zu ihm: "Nach zwanzig Jahrhunderten Christentum, Himmeldonnerwetter, dürfte es doch keine Schande mehr bedeuten, arm zu sein! Nein, ihr habt euren Christus verraten! Mein Gott, guter Gott! Ihr verfügt doch über alles, was man braucht, um die Reichen zu demütigen und zur Pflichterfüllung zu zwingen. Die Reichen dürsten doch nach Achtung, je reicher sie sind, um so mehr." Diese Macht hat die Kirche längst verloren, und von der Würde der Armut zu sprechen, käme ihr nicht mehr in den Sinn. Es wäre ein Skandal.

Dem Skandal ist der französische Schriftsteller Léon Bloy (1846–1917) nie aus dem Weg gegangen. Er war ein höchst ungemütlicher Mann, ein radikaler Katholik, der das Heil nicht im Prunk erblickte, sondern in der Armut, nicht im Genuss, sondern in der Entsagung, nicht in der Selbstverwirklichung, sondern im Gehorsam. Gehorsam hieß für ihn, sich in der Nachfolge Christi zu üben und den Geboten der Kirche zu folgen.

Für Bloy war Jesus der Prediger der Armut. "Die göttliche Gnade wird im ganzen Universum symbolisch durch die Armen und die Bettler repräsentiert", schrieb er und vertiefte diesen Gedanken in seiner Schrift "Das Blut der Armen" (1909). Dort definiert er, was Armut bedeutet: "Die Armut ist das Relative – der Entzug des Überflüssigen. Das Elend ist das Absolute – der Entzug des Notwendigen."

Für Bloy ist die Armut ein Gottesgeschenk. "Meine tiefe und unerschütterliche Überzeugung ist, dass ich dazu auserwählt bin, der Zeuge Gottes zu sein, der sichere Freund des Gottes der Unterdrückten und der Armen, wenn die Stunde kommen wird, und nichts wird wichtiger als dieser Ruf sein. Ich habe die unvergleichliche und wundersame Ehre, demjenigen notwendig zu sein, der niemanden braucht." Und er fügt hinzu: "Das Essenzielle meines Weges ist die Armut."

Hat Armut eine Würde?

Wer sich unsere notorische Sozialstaatsdebatte vor Augen hält, der sieht, dass Ideen, wie man sie bei Bernanos oder Bloy findet, vollkommen außerhalb des gegenwärtig Denkbaren liegen. Die "Würde der Armut" scheint der "Würde des Menschen" total zu widersprechen. Vielleicht ist das ein Fehlschluss. Vielleicht käme das christliche Gebot der Barmherzigkeit erst dann wirklich zum Ziel, wenn man der Armut, die nach aller Erfahrung ein andauerndes Faktum ist, eine eigene Würde zuerkennen könnte, wenn der tatsächlich Arme nicht bloß ein bürokratischer Vorgang wäre, sondern ein Mensch, dem die Nächstenliebe eben deshalb zuteil wird, weil er Mensch ist.

Beide, Bernanos wie Bloy, lassen sich im weitesten Sinn dem "Renouveau catholique" zurechnen, der sich im Frankreich des 19. Jahrhunderts herausgebildet hat. Zu der im Wortsinn konservativen Bewegung zählten auch deutsche Schriftsteller wie Stefan Andres oder Reinhold Schneider. Dass sie weitgehend vergessen sind, spricht nicht dagegen, sich mit ihnen zu beschäftigen. Der Wunsch, zustimmen zu dürfen, ist fast niemandem fremd. Gerade deshalb lohnt es sich, die eigene Position am Widerspruch in Frage zu stellen.

Hans Urs von Balthasar hat 1954 ein Buch über Bernanos (1888–1948) veröffentlicht. In seinem Nachruf charakterisiert er ihn:

"Ein überzeugter Katholik, der zur Zeit des spanischen Bürgerkriegs die schwersten Anklagen gegen einen Teil des spanischen Klerus erhob. Ein französischer Royalist mit antisemitischen Neigungen, zugleich ein erbitterter Gegner des Vichy-Regimes. (…) Ein christlicher Schriftsteller, in dessen Werk die Darstellung und Bloßstellung des Bösen, der Sünde und des Lasters den breitesten Raum einnahm."

Wer die Begegnung mit Léon Bloy nicht scheut, der sei auf das von Alexander Pschera herausgegebene und hervorragend kommentierte Kompendium der Briefe, Tagebücher und Prosastücke hingewiesen, das 2020 unter dem Titel "Diesseits von Gut und Böse" im Verlag Matthes & Seitz (Berlin) erschienen ist.

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