Das Gesetz ist nicht alles: Wenn Not und Leid unmittelbar zum Vorschein kommen, braucht es die spontane Anteilnahme und Zuwendung.

Mein erster Kinofilm war "Prinz Eisenherz" (1954). Ich war so fasziniert, dass mich seitdem alles brennend interessierte, was mit Rittergeschichten zu tun hatte. Der Sagenkreis um König Artus und den Gral hatte es mir besonders angetan. Später, als ich Germanistik studierte, spielten die mittelhochdeutschen Texte eine bedeutende Rolle, darunter natürlich der "Parzival" des Wolfram von Eschenbach. Er entstand zwischen 1200 und 1210 und zählt zu den ersten Romanen der deutschen Literatur.

Es war die berühmte Mitleidsfrage, die mich immer wieder beschäftigte. Dass Parzival sie nicht stellte, erschien mir plausibel; dass er deshalb mit Schimpf und Schande überzogen wurde, empörte mich. Hatte er nicht die Anweisungen seines Lehrmeisters getreulich befolgt?

Der angesehene Ritter Gurnemanz ist von der Erscheinung des jungen Burschen höchst überrascht: einerseits ein starker und schöner Jüngling, andererseits völlig naiv, ungebildet, geradezu ein Tölpel. So zeigt er ihm, wie er sich zu kleiden hat, und bringt ihm höfisches Benehmen bei: "nu lat der unfuoge ir strit. / irn sult niht vil gevragen." Dieter Kühn übersetzt es so: "Seid nicht mehr so ungehobelt! / Ihr sollt nicht viele Fragen stellen!"

Nach langem Ritt gelangt Parzival in die Gralsburg, wird freundlich empfangen und in einen prächtigen Saal geleitet, wo ein Festmahl stattfindet. Der Gral wird hereingebracht, ein leuchtender Stein, der die Kraft eines Tischlein-deck-dich besitzt und alle Wünsche nach Speisen und Getränken augenblicklich erfüllt. Ein Knappe trägt einen Speer herein, aus dessen Spitze Blut quillt, und die ganze Versammlung bricht in Tränen aus: Es ist der Speer, der dem König Anfortas eine tödliche Wunde zugefügt hat. Doch er kann nicht sterben, weil der Gral ihm ein stetiges Leben verleiht, allerdings ein höchst schmerzvolles.

All dies sieht Parzival, doch er erinnert sich an die Weisung des Gurnemanz und hofft, er werde auch ohne Fragen hinter das Rätsel kommen. Selbst als der sichtlich leidende König ihm zum Abschied ein Schwert schenkt, versäumt Parzival die rettende Frage: "oeheim, waz wirret dier?" (Oheim, sag, was quält dich so?). Am nächsten Morgen findet er die Burg menschenleer. Nur der Knappe, der die Zugbrücke bedient, schickt ihm einen Fluch hinterher: "Hättet Ihr doch bloß den Schnabel aufgemacht!"

Auch ich war dahin erzogen worden, keine vorlauten Fragen zu stellen, sondern höflich abzuwarten, bis man mir Bescheid gab. So lauteten die Gesetze des bürgerlichen Comments.

Natürlich war mir, als ich die Geschichte las, die Moral nicht entgangen, und doch sympathisierte ich mit Parzival. Auch ich war dahin erzogen worden, keine vorlauten Fragen zu stellen, sondern höflich abzuwarten, bis man mir Bescheid gab. So lauteten die Gesetze des bürgerlichen Comments.

Die Nächstenliebe und das Gesetz

Insofern hätte ich den Pharisäern zustimmen können, als sie mit Jesus über das Sabbat-Gebot stritten. Gut, das Verbot, Körner aus den reifen Ähren zu rubbeln, war pingelig. Aber hätte Jesus den Mann mit der "verdorrten Hand" (Mk 2) nicht genauso gut am nächsten Tag heilen können? Nein, sagt Jesus in aller Schärfe, das Gebot der Nächstenliebe steht über dem Gesetz.

Sein Argument erinnert an den Gedanken des übergesetzlichen Notstands. Jesus sagt es immer wieder: Das Gesetz ist nicht alles. Es ist eine ehrwürdige Institution, die man achten sollte. Wenn aber Not und Leid unmittelbar zum Vorschein kommen, dann sind kodifizierte Regeln untauglich, dann bedarf es der spontanen Anteilnahme und Zuwendung. Daran hat Parzival es fehlen lassen, was er hinterher zutiefst bereut hat.

In seinem scharfsinnigen Buch "Die Schreie der Verwundeten – Versuch über die Grausamkeit" (2013) hat Henning Ritter gezeigt, wie der Gipfel der Grausamkeit nicht allein von jenen erreicht wurde, die aus sadistischer Freude handelten, sondern vor allem auch von jenen Gesetzestreuen, die den Paragrafen mit leidenschaftsloser Kälte gehorchten.

Die ausschließliche Fixierung auf rechtsförmiges Verhalten hat auch eine finstere Seite. In seinem scharfsinnigen Buch "Die Schreie der Verwundeten – Versuch über die Grausamkeit" (2013) hat Henning Ritter gezeigt, wie der Gipfel der Grausamkeit nicht allein von jenen erreicht wurde, die aus sadistischer Freude handelten, sondern vor allem auch von jenen Gesetzestreuen, die den Paragrafen mit leidenschaftsloser Kälte gehorchten. In Robespierre sieht Ritter einen Mann, der den Anblick von Blut nicht mag, es gleichwohl in Strömen fließen lässt. Er begeht die Grausamkeiten nicht zum Spaß, er handelt im Namen des Gesetzes, in quasigöttlichem Auftrag.

Schopenhauer, so Ritter, habe im Mitleid das einzige Mittel gegen die Barbarei erblickt. Das Mitleid aber ist für Schopenhauer kein einklagbares rationales Verhalten, sondern "das große Mysterium der Ethik, ihr Urphänomen und der Grenzstein, über welchen hinaus nur noch die metaphysische Spekulation einen Schritt wagen kann."

Die "metaphysische Spekulation" führt zu nichts anderem als zur christlichen Nächstenliebe. Was sie bedeutet und was aus ihr folgt, das lernt man nicht von Gurnemanz und auch nicht von Knigge. Man kann es von Jesus lernen.

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