Mitarbeiter der AuferstehungWas uns ein kirgisischer Roman über das Reich Gottes verraten kann

Tschingis Aitmatows Roman "Der Richtplatz" bietet eine überraschende Interpretation der Begegnung zwischen Jesus und Pilatus. Das Reich Gottes wird nicht zu einem von Gott festgelegten Datum von außen kommen. Wann es kommt, hängt vielmehr vom Menschen selber ab.

Steppe in Kirgisien
© Pixabay

Pontius Pilatus ist eine höchst ambivalente und deshalb literarisch ergiebige Figur, auch und gerade bei russischen Schriftstellern. In Michail Bulgakows Roman "Der Meister und Margarita" (1940) spielt er eine wichtige Rolle, und Tschingis Aitmatow erzählt in seinem Roman "Der Richtplatz" von der Begegnung zwischen Pilatus und Jesus. Die beiden geraten in ein langes, tiefgründiges Gespräch. Pilatus wundert sich selbst darüber, dass er sich überhaupt darauf einlässt. Aber da ist etwas an diesem Nazarener, dass ihn erschreckt und zugleich fasziniert. Er versteht nicht, was diesen Mann dazu antreibt, ohne zwingenden Grund in den Tod zu gehen. König der Juden will er sein? Hat er deshalb die Massen aufgewiegelt?

"Er ist wahrlich nicht der erste, der nach der höchsten Macht strebt", so geht es Pilatus durch den Kopf, "doch so klug, schlau und tückisch hat es noch keiner angestellt – wenn er erst mal am Ruder ist, wird er wohl genauso herrschen wie alle anderen, denn so ist nun einmal der Lauf der Welt." Pilatus, der das Todesurteil aufheben könnte, verlangt von Jesus, sich von seinen aufrührerischen Worten loszusagen. Die Antwort: "Es gibt nichts, wovon ich mich lossagen könnte, Herrscher, die Worte sind von meinem Vater bestimmt, ich war verpflichtet, sie den Menschen zuzutragen und damit Seinen Willen zu erfüllen."

"Dies ist der Plan des Allmächtigen"

Je länger Pilatus den Delinquenten befragt, desto klarer wird ihm, dass es nicht um einen politischen Umsturz ging. Aber worum dann? Hat Jesus wirklich gesagt, er werde nach seiner Kreuzigung zurückkehren und das Jüngste Gericht abhalten? Und wann werde das sein? Jesus antwortet:

"Wann der Tag kommt, kann niemand sagen, denn dies liegt in den Plänen des Schöpfers. Was für uns tausend Jahre währt, mag für ihn ein Augenblick sein. Aber darum geht es nicht. Der Schöpfer hat uns mit dem höchsten Gut dieser Welt ausgestattet – mit Vernunft. Er hat uns den Willen gegeben und die Kraft des Verstehens. Wie wir mit dieser Gabe des Himmels schalten und walten, wird auch die Geschichte der Menschengeschichte bestimmen: Du kannst es nicht leugnen, der Sinn der menschlichen Existenz liegt in der Selbstvervollkommnung seines Geistes."

Doch Pilatus, auf verstörende Weise angezogen von der selbstbewussten Demut, die Jesus ausstrahlt, fragt abermals, und nun kommt Aitmatows wahrhaft erstaunliche Interpretation der Auferstehung:

"So wisse also, Regent Roms, Gottes Plan liegt nicht darin, daß, wie der Blitz aus heiterem Himmel, einmal der Tag anbrechen wird, da Gottes Sohn, der Auferstandene, von den Himmeln herabsteigt, um über die Völker Gericht zu halten, sondern es wird alles umgekehrt sein, wenngleich das Ziel dasselbe ist. Nicht ich, dessen Lebensweg noch von hier durch die Stadt bis zur Schädelstätte reicht, werde nach der Auferstehung wiederkommen, sondern ihr Menschen seid es, die in Christo wiederkehren werdet – in höchster Gerechtigkeit, ihr werdet zu mir kommen in den unerkennbaren Generationen, die da folgen werden. Und dies wird meine Wiederkunft sein. Anders gesprochen, in den Menschen kehre ich wieder durch meine Leiden, in den Menschen komme ich zu den Menschen zurück. Darum geht es. Ich bin ihre Zukunft, tausend Menschenjahre nach mir, dies ist der Plan des Allmächtigen, soll der Mensch auf den Thron seiner Bestimmung geführt werden – zum Guten und zur Schönheit."

Das Reich Gottes wird nicht zu einem bestimmten Datum eintreten. Wann es kommt, hängt von den Menschen ab. Die Pointe von Aitmatows Interpretation lautet: Wir alle sind Mitarbeiter der Auferstehung. Wenn wir wollen, geschieht sie unaufhörlich.

Verkörperung eines gegenwärtigen Jesus

Tschingis Aitmatow lebte von 1928 bis 2008 und war Kirgise. So spielt auch "Der Richtplatz" zum größten Teil in Kirgisien. Ungewöhnlich ist, dass zu den Hauptfiguren zwei Wölfe zählen. Als die Behörden, um die Fleischproduktion zu erhöhen, den Beschluss fassen, die Antilopenherden der Steppe mit Hubschraubern zu jagen und mit Maschinengewehren zu töten, geraten die Wölfe zwischen die Fronten und können sich nur mit Mühe retten. Es zeigt sich: Wölfischer als die Wölfe sind die Menschen. Nicht alle. Der junge Awdij Kallistratow, ein gottgläubiger Mensch, kämpft gegen das Böse, wo immer es ihm begegnet. Dass er am Ende eines elenden Todes stirbt, widerlegt ihn nicht.

"Der Richtplatz" ist zuerst 1986 erschienen. Er wurde als Verteidigung des Reformkurses verstanden, den Gorbatschow begonnen hatte. Pilatus könnte ein Volkskommissar oder ZK-Mitglied der alten Garde sein. Und Kallistratow, der Kämpfer für die Freiheit und Gleichheit aller Menschen, verkörpert einen gegenwärtigen Jesus. Aitmatow war Kommunist. Und doch identifiziert er sich in seinem Roman auf tief beeindruckende Weise mit der christlichen Botschaft.

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