Der Kartenverkäufer kam im T-Shirt aus dem Kassenhäuschen. Seine langen aschblonden Haare wehten um die Schultern. Hier in der grellen Sonne und im leichten Wind sah er ein bisschen aus wie Mel Gibson in Braveheart. Wir folgten ihm zusammen mit den anderen Touristen staunend durch die Säulenreihe in die Kirche. Als wir durch die kunstvoll gestaltete dunkle Holztür in die Klosterkirche traten und zum ersten Mal die Säulen entlang zur Decke der Basilika blickten, strahlte Matej mich an. Er schaute sich ein paar Mal mit schnellen Kopfbewegungen um und sagte schließlich, erneut zu mir gewandt: "Berghain, aber normal."
Gott benutzte immer konkrete Formen, in denen er uns begegnen konnte, und entzog sich gerade mit ihnen unserem Zugriff.
Ich stutzte. War das eine Provokation? War das ein ironisches Kratzen an dem, was manche Pietät oder Achtung nennen? Ich spürte, dass ich irritiert war. Wie war das gemeint? Nein, Matej provozierte nicht und in Momenten wie diesen war Ironie nicht sein Stilmittel. Es gab bei ihm keinen Unernst, der lediglich zur Herausforderung des anderen genutzt wurde. Vor allem provozierte Matej nicht auf die billigste Art. Christenwitze waren die billigste Art. Ja, es war ein Witz, ein Spiel mit dem Spannungsverhältnis von Wort und bezeichnetem Gegenstand – aber nur um einer Einsicht Willen. Es war ein durchdringender Blick auf das, was hier gerade passierte. Ein Erkennen der Gestalt dieser Kirche und damit – und tatsächlich merkte ich das erst jetzt – meines Glaubens. "Berghain, aber normal". In diesem Satz war mein Glauben gefasst. So, dass ich ihn besser verstand, und so, dass Matej ihn besser verstand. In dem Moment, in dem wir die Basilika Ossegg betraten, traten wir durch "Berghain, aber normal", durch diesen rasch dahingesagten Satz, auch tiefer ein in das Geheimnis, das der Glauben ist und damit in das Geheimnis, das Gott aus sich machte. Gott benutzte immer konkrete Formen, in denen er uns begegnen konnte, und entzog sich gerade mit ihnen unserem Zugriff.
Gott hat eine Form
Matej war von jeglicher Kategorie von Form fasziniert. Und hier, nach dem Durchschreiten des Dunkels von Kolonnade und Holzeingang, drängte sich beim Betrachten der schier unermesslichen Pracht dieser Kirche im Braunkohlegebiet Nordböhmens der Gedanke auf, dass Gott tatsächlich eine Form haben könnte. Und damit naturgemäß zugleich der Gedanke, dass wir diese Form auch entdecken könnten. Schönheit als etwas, in dem Gott uns begegnet? Dann musste es eine Schönheit sein, die über eine nur äußerliche Gestalt hinausging. Schönheit, die nicht die äußere Gestalt abschaffte, sondern mit ihr über sie hinausging.
Ich glaube, das meinte Matej mit "Berghain, aber normal". Berghain – das war hier für ihn eine Chiffre. Das Berghain war ja nur bedingt etwas Besonderes, und doch war es für ein Jahrzehnt so ziemlich das Beste, was die Berliner und damit die weltweite Clubkultur aufzubieten vermochte. Es war die beste Form, die ein Techno-Club in dieser Welt angenommen hatte. Dieser Schwulenclub, dieses Refugium. Dieser Ost-Pol mit all seiner Kunst darin. Die Sehnsüchte nach Perfektion waren hier erfüllt. Sehnsüchte, wie sie damals bei Jugendlichen, wie Matej es einer war, geweckt worden waren, durch Musik wie Depeche Modes Violator-Album von 1989. Das ikonische Cover mit der Rose, das Bühnenbild mit den Videoleinwänden, die Videos selbst. Alles aus Anton Corbijns Hand war damals die absolute Spitze des Synthie-Pop. Schon der ikonische Opener mit seinem trockenen elektronischen Beat, die Hommage an Kraftwerk war die Verbindung der Anfänge von Disko bis zum Techno am Wriezener Bahnhof. Erst Violator und dann die The Songs of Faith and Devotion (1993) haben wie kaum etwas anderes tiefe Spuren in der Seele der Nachwende-Generation gerade ostseits der Mauer hinterlassen und bei ihr in den vulnerablen Neunzigern sehr tiefe Saiten zum Klingen gebracht. So auch bei Matej. Die Devotional-Tour wurde ebenfalls von Corbijn verfilmt. Schon der Beginn ein Gesamtkunstwerk: Das Spiel mit der verhüllten Bühne. Die Band überlebensgroß hinter Vorhängen. Zu hören, aber noch nicht zu sehen. Das war eine überlegene und unerreichte Inszenierung von Nähe und Distanz. "Darunter will ich es nicht machen", hatte Matej mal im Glaubenskurs gesagt. "Auch nicht in der Kirche, im Gottesdienst. Diese Größe, das ist es."
Das Berghain war der Versuch des Immer-Mehr und Immer-Besser. Berghain hieß pure Konzentration zu erleben, den Fokus auf das Beste, was möglich war.
Diese Größe war hier. Deshalb war das hier "Berghain, aber normal." Wir gingen den Mittelgang entlang. Links und rechts die barock verzierten, gold-bunten Säulen. Das Licht schien seitlich durch das hohe Schiff und brachte alle auch nur denkbaren Farben und Schattierungen hervor.
Das Berghain war der Versuch des Immer-Mehr und Immer-Besser. Berghain hieß pure Konzentration zu erleben, den Fokus auf das Beste, was möglich war. Das Erlebnis dieses Clubs war das Erleben der Reduktion auf das Herausragendste, was in der Clubkultur denkbar war. Reduktion auf die beste Musik über die beste Anlage mit den besten Leuten unter den bestmöglichen Umständen. Diese Kompromisslosigkeit in jedem relevanten Segment war das, was Punk immer versprochen und beinahe nie eingelöst hatte. Tresor, Panoramabar oder Berghain waren gegenüber Punk, wie man ihn als ostdeutscher Jugendlicher gewohnt war, kompromisslos kaltschnäuzig und damit in vereinzelten, flüchtigen Momenten tatsächlich irgendwie church, ja Techno-Kathedralen. Das Berghain hatte die Spitze des Möglichen im Bereich Clubkultur versucht und auch berührt. Damit gab es auf einmal in den Seelen von Menschen wie Matej die Idee von einer Schönheit, die mehr ist als persönliches Empfinden. Es gab nun die Idee, dass das, was mich dort bewegt, etwas anderes als ich selber ist und dass ich mehr davon will. Immer mehr.
Das Berghain endete irgendwann, und zwar im besten Fall mit Anfang 50 an der Grenze von Prenzlauer Berg und Weißensee vor der evangelischen Kita des ersten Kindes. Es endete dort, weil das Mehr vom Wriezener Bahnhof sich nicht durchhalten ließ, sich nicht selber durchhielt.
Die Basilika war kühl, hoch und ergreifend. Ein ganz feiner Hauch Weihrauch lag in der Luft. Was uns hier begegnete, war offenbar "Berghain, aber normal". Aber es war eine neue Stufe. Alles Mehr und Besser des Berghain war hier in der tiefsten Braunkohle von einem teilweise verfallenen Zisterzienserkloster abgelöst. Was im Berghain noch als flüchtige, vielleicht transzendentale Erfahrung durchging, war angesichts des puren Wahnsinns, der sich dem Besucher hier darbot, Vergnügen – und nur Vergnügen. Die Kompromisslosigkeit des Berliner Clubs, die das Innere schon tief zu bewegen schien, wurde hier kraftlos. Hier in Ossegg wurde klar, dass es sein eigenes Versprechen nicht einhielt, nicht einhalten konnte. Das Berghain endete irgendwann, und zwar im besten Fall mit Anfang 50 an der Grenze von Prenzlauer Berg und Weißensee vor der evangelischen Kita des ersten Kindes. Es endete dort, weil das Mehr vom Wriezener Bahnhof sich nicht durchhalten ließ, sich nicht selber durchhielt.
Die Kompromisslosigkeit des Clubs wurde auf einmal nur mehr eine schmerzhafte Erfahrung oder eine nostalgische Erinnerung. Der Exzess war eine Lebensphase geworden und das, wie gesagt, im besten Fall. Das Leben, wie es eben war, war nicht das Berghain. Damit war das Mehr im Berghain nicht für das Leben, wie es nun einmal ist. Für nicht wenige ist das bis heute ein Erkenntnisgewinn. Und selbst dieser Erkenntnisgewinn braucht eine Erklärung. Er liegt nämlich nicht darin, dass der Körper irgendwann keine 27 Stunden Rave mehr mitmacht. Das ist banal und keine Erkenntnis. Der Erkenntnisgewinn ist ein anderer. Das Mehr, das uns im Berghain berührte, die Schönheit, die dort zutage trat, bekam im Berghain irgendwann nicht mehr den Platz, der ihr zusteht. Die Schönheit, die in der Perfektion des Berghains wie eine Tangente den Kreis unseres Lebens berührt und damit zugleich nicht berührt, ist etwas, das das Leben ausfüllen will – das ganze Leben des Menschen und nicht nur Samstagnacht bis Montagfrüh, nicht nur zwischen 15 bis 43. Nicht nur das ganze Leben eines coolen Menschen in Berlin, sondern das Leben aller. Also auch jener, die ins Berghain nicht reinkommen. Das Berghain löste das Versprechen von Schönheit und damit die Erwartung der Besucher nicht ein, wirklich Schönheit in das Leben als solches zu bringen. Das, was es gut machte, die Perfektion, die Abschottung, die Konzentration, das war zugleich seine Grenze.
Der Triumph von Ossegg
Diese Grenze ist es, die Ossegg seit 800 Jahren seinen Triumph beschert. Den Triumph über die Zeit und die Welt, wie sie nun einmal war. Andauernd wurde Ossegg zerstört und jedes Mal ein bisschen schöner wiedererrichtet. Jedes Mal ein kleiner Triumph über die Welt, der aber ein Triumph für diese Welt war. Das war das Entscheidende. Gestern, in Berlin, war Schönheit eine Schönheit gegen den Abgrund der Welt da draußen gewesen. Schönheit war dort Abgrenzung, Grenzziehung. Ossegg machte das ebenfalls, aber Ossegg machte mehr. Schönheit war hier nicht nur Abgrenzung. Hier war die Gestalt und die Form Schönheit für die Welt. Die Schönheit Osseggs war für Menschen da, die sie weder verdient hatten noch wussten, ob sie sie wollten.
Ossegg machte klar, dass schön auch gut ist. Diese Schönheit hier war eine für die Menschen. Die Mönche wussten, dass selbst die größten Sünder es nicht verdient hatten, Hässlichkeit ertragen zu müssen.
Ossegg machte klar, dass schön auch gut ist. Diese Schönheit hier war eine für die Menschen. Die Mönche wussten, dass selbst die größten Sünder es nicht verdient hatten, Hässlichkeit ertragen zu müssen. So stand nun unterhalb eines Erzgebirges, das der saure Braunkohleregen einmal völlig entwaldet hatte, neben grau-gelben Plattenbauten und bis an den Horizont reichenden Abraumhalden ein atemberaubendes Kunstwerk, das die Schönheit an sich erfahrbar machte. Objektive Schönheit, in der auch Güte war. Die Kirche und die Pivnice in ihrem Schatten waren wie die Äste eines uralten Baumes, auf dem die Vögel ruhen konnten. Auf dem wir landen konnten. Es war, ob sie es wollten oder nicht, ein Bau für die Menschen, und das so exzellent wie nur irgend möglich. Es war Wahrheits- und Menschenliebe, die in der Schönheit der Fresken, Türme und Glocken, ja in jedem Traufdach, jeder Gaube und Kupferabdeckung der Wohn- oder Stallgebäude steckte. Keiner hier hatte das verdient, aber jeder bekam es, weil jeder das Leben erleben sollte. Das konnte das Berghain nicht. Ossegg konnte es.
Ich hatte auf einmal etwas verstanden, was mir nie bewusst gewesen war, für das ich aber Matej brauchte, der wiederum die Schönheit brauchte in größtmöglicher Konzentration. Einmal hatte ich ihm während des Glaubenskurses empfohlen, in eine der vielen österreichischen Neubaukirchen des augsburgischen Bekenntnisses zu gehen. Dort erlebte er, wie im Gottesdienst gebetet wurde: "Hilf uns, unsere Unzulänglichkeiten zu akzeptieren." "Warum?", schrie er fast beim nächsten Treffen des Kurses in die Zoomkamera. "Ich will doch die bestmögliche Version meiner selbst werden!" Er wusste vielleicht, dass er daran scheitern würde, aber er wollte es wollen dürfen. So war das Leben. Und dieses Leben, wie es eben war, ging nun in Gestalt von Matej durch das Chorgestühl der Basilika. Was Matej erlebte, war, dass die Perfektion hier dem, der sie sucht und der sie oft auch verpasst hat, gegönnt wurde. Gegönnt als etwas außer ihm, aber für ihn. Schönheit für ihn und nicht nur als etwas anderes als er.
Matej spürte, dass Schönheit immer mehr werden musste und dass das mit den Mitteln der Welt ab einer bestimmten Grenze nicht mehr ging. Das Berghain endete, aber die Schönheit wollte mehr. Ossegg war von diesem Mehr berührt. Seine Schönheit wanderte von Raum zu Raum in unser Inneres und es war, als würde sie etwas in uns verwandeln. Sakrale und funktionale Räume gingen ineinander über, waren gar nicht unterscheidbar. Alles, war auf eines ausgerichtet. Das Eine wirkte durch alles, was hier war. Ich meine, mich an ein Wort zu erinnern, das etwa lautete, dass jemand, der nur eine Sache mache, ein Heiliger sei. Dieser Ort hier war heilig, weil es hier nur um eine Sache ging und die Umstände daran nie etwas änderten. Manchmal lebten hier noch drei Brüder in völlig zerstörten und verfallenen Bauten und dennoch ging es immer weiter. Immer weiter. Man wusste nicht, mit wem und mit wie vielen. Aber es ging immer weiter. Weil das, worum es hier ging, nirgendwo Halt machte.
Durch Matej hatte ich verstanden: Es gab nicht nur eine Schönheit gegen die Welt, es gab auch eine Schönheit für die Welt.
"Berghain, aber normal." Durch Matej hatte ich verstanden: Es gab nicht nur eine Schönheit gegen die Welt, es gab auch eine Schönheit für die Welt. Für eine Welt, die es sich nicht verdient hatte, die aber dennoch immer wieder etwas abbekam von dieser Schönheit, die am Ende Liebe war und deshalb keinen Halt kannte.