VerlustanzeigeDas Ende einer langen Tradition: Kein NZZ-Leitartikel zu Ostern mehr

2023 brach Chefredakteur Eric Gujer mit einer langjährigen Tradition – diese Leerstelle haben wache Leserinnen und Leser registriert. In der Tat fehlte etwas, wenn die öffentliche Reflexion über Kreuz und Auferstehung in der Neuen Zürcher Zeitung nun endgültig abgestellt würde. Ein Zwischenruf.

Kreuz vor alpinem Hintergrund
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Die Neue Zürcher Zeitung ist ein liberales Blatt und gehört zu den Leitmedien des deutschsprachigen Raumes, sie erscheint seit 1780, ihre Gründung reicht also hinter die Französische Revolution zurück. Seit dieser Zeit gibt es die Tradition, dass vor Ostern auf der Titelseite des Blattes ein Essay zum Inhalt dieser christlichen Hochfeste gebracht wird. Diese Tradition wurde zu Ostern 2023 vom gegenwärtig amtierenden Chefredakteur Eric Gujer unterbrochen. Lesern, die in Zuschriften diese Leerstelle mit Bedauern registriert hatten, ließ die Redaktion wissen, man habe am Karsamstag dringlichen säkularen Inhalten den Vorzug gegeben, wisse aber darum, dass Teile der Leserschaft christliche Inhalte zu den Festtagen schätzen würden. Es bestand somit Hoffnung, dass die Leitartikel zu Ostern 2024 wieder aufgenommen würden.

Diese Hoffnung ist nun zerstoben. Kein Leitartikel zu Kreuz und Auferstehung. Nichts – außer im Feuilleton ein Essay von Wilhelm Schmid, der zur Philosophie der Lebenskunst Treffliches zu sagen weiß, aber mit Gedanken zum Aufgehen der Seele in kosmischen Energien nur wenig zur theologischen Erschließung von Passion und Auferstehung beizusteuern hat. Hat die NZZ mit dieser Entscheidung einen alten Zopf abgeschnitten – oder fehlt etwas, wenn öffentliche Betrachtungen über den Sinn von Ostern fehlen? Schon zu Weihnachten war ein Leitartikel erschienen, der über die Zumutung von Frieden und Versöhnung räsonierte, ohne auf den Sinngehalt des Festes einzugehen.

Glaube – kaum mehr als fromme Mythologie?

Gujer, Träger des Ludwig-Börne-Preises, hat eine zeitdiagnostisch wache Witterung. Er hat registriert, dass wir nicht mehr in Gesellschaften leben, die durchgängig christlich geprägt sind. Säkularisierungsschübe, aber auch Migrationsbewegungen haben religiöse Pluralität und weltanschauliche Buntheit hervorgebracht. Die Konfessionslosen bilden in manchen Städten der Schweiz inzwischen das größte Bevölkerungssegment. Aus der Sicht der urbanen Wissensgesellschaft könnten Leitartikel über christliche Feste als anachronistisch betrachtet werden. Gibt es nicht mehr und mehr Zeitgenossen, die den Glauben an die Menschwerdung des Wortes Gottes oder die Auferstehung des Gekreuzigten als fromme Mythologie einstufen?

In früheren Jahren hat die NZZ dem aufgeklärten Publikum dargelegt, dass der Zweifel an Weihnachten oder die Osterskepsis selbst noch einmal reflexiv gebrochen werden können, dass in beiden Festen Ursehnsüchte des Menschen aufgenommen und aus der Sicht des Glaubens produktiv bearbeitet werden. Damit ist nun Schluss. 

Hinzu kommt, dass die Kirchen kräftigem Gegenwind ausgesetzt sind. Die Fälle sexuellen Missbrauchs und deren Vertuschung durch die Personalverantwortlichen haben ihr Ranking auf dem Reputationsbarometer massiv fallen lassen. Die Kirchen liegen am Boden. Insofern scheint es strategisch klug, die Tradition der Leitartikel zu den christlichen Hochfesten aufzukündigen.

In früheren Jahren hat die NZZ – durchaus gegenläufig zum Säkularisierungstrend – zu Weihnachten und Ostern Essays von Alois M. Haas, Eberhard Jüngel, Niklaus Peter, oder Stimmen aus der Redaktion wie Uwe Justus Wenzel oder Thomas Ribi gebracht. Das war stark. Hier wurde dem aufgeklärten Publikum dargelegt, dass der Zweifel an Weihnachten oder die Osterskepsis selbst noch einmal reflexiv gebrochen werden können, dass in beiden Festen Ursehnsüchte des Menschen aufgenommen und aus der Sicht des Glaubens produktiv bearbeitet werden. Damit ist nun Schluss. Dabei gäbe es auch heute Federn, die diese Tradition klug weiterführen könnten. In der Zwingli-Stadt Zürich selbst etwa Ingolf U. Dalferth, Konrad Schmid oder Christiane Tietz, aus dem Spektrum der katholischen Theologie in der Schweiz Joachim Negel oder Ursula Schumacher.

Leerstellen ohne Not

Manche mögen nichts vermissen. Andere aber doch. Wo der theologische Ausblick auf die Vertikale wegbricht, könnte bei aller analytischen Schärfe und stilistischen Pointierungskunst der Blick auf die beschleunigten Gesellschaften, in denen wir leben, flacher werden. Die Anbindung an die religiösen Herkunftswelten, die Generationen vor uns geprägt haben, wird gelockert. Dadurch entstehen ohne Not Leerstellen. Was auf den ersten Blick strategisch klug zu sein scheint, könnte sich in the long run als kurzsichtig erweisen. Die Gegenwart, die von vielfältigen Krisen durchsetzt ist und unter affektiven Polarisierungen des Diskurses leidet, schlägt gemeinsame Ressourcen aus, die zur Überwindung der Krisen beitragen könnten. Sie verzichtet darauf, durch Einblendung vergangener Glaubenswelten die weithin säkularisierte Gegenwart noch einmal kritisch zu spiegeln.

Gewiss, es hat durch die Emanzipation von religiösen Bindungen auch Freiheitszuwächse in der Moderne gegeben. Wer wollte das leugnen? Aber könnte die Aktualisierung von religiösen Sinnressourcen nicht auch für die religiös unmusikalische Leserschaft interessant sein?

Wenn die Kommunikation über den Glauben in der medialen Öffentlichkeit an immer weniger Orten stattfindet, besteht umgekehrt zugleich die Gefahr, dass sich religiöse Akteure in Ghettowinkel mit entsprechenden Sondergruppenvokabularen zurückziehen. Auch die Theologie kann sich in den akademischen Elfenbeinturm zurückziehen, wenn die Rechenschaftspflicht, öffentlich für den Sinn des Glaubens einzustehen, von ihr kaum mehr abverlangt wird.

Gewiss, es hat durch die Emanzipation von religiösen Bindungen auch Freiheitszuwächse in der Moderne gegeben. Wer wollte das leugnen? Aber könnte die Aktualisierung von religiösen Sinnressourcen nicht auch für die religiös unmusikalische Leserschaft interessant sein? Die NZZ würde nicht gleich zum Pfarrblatt, wenn sie zu Weihnachten den Anstoß böte, über den Körper als Medium der Gottespräsenz nachzudenken, spirituell Suchenden das mystische Konzept der Gottesgeburt der Seele nahezubringen oder durch Verweis auf die Wehrlosigkeit des Kindes in der Krippe den Blick für die Verletzlichkeit und Schutzbedürftigkeit des Lebens zu schärfen. Der Skandal des Kreuzes hingegen kann das Nachdenken über soziale Dynamiken von Hass und Gewalt anregen, die Compassion mit den Leidenden fördern und zu einer Kultur der Vergebung anleiten, die den anderen nicht auf seine Fehler festlegt. Und warum nicht einmal die österliche Hoffnung auf ein Leben, das keinen Tod mehr kennt, mit transhumanistischen Utopien gegenlesen, die meinen, mit biotechnischen Mitteln nicht nur Alter und Krankheit, sondern den Tod selbst abschaffen zu können.

Es fehlt etwas

Es fehlte etwas, wenn die öffentliche Reflexion über Kreuz und Auferstehung in der NZZ nun endgültig abgestellt würde. Was wäre, wenn die Entscheidung der Redaktion, die jahrhundertelange Tradition der Leitartikel zu Ostern abzustellen, noch einmal überdacht und revidiert würde? "Der andere Blick", für den die Zeitung ansonsten wirbt, könnte wohlüberlegt Kontrapunkte gegen das leise Beiseite-Schieben des Christentums aus dem Spektrum auch anderer großer Tageszeitungen setzen. Statt dem faktischen Bedeutungsverlust der Kirchen nüchtern zu entsprechen und künftig die Konfessionslosen zu privilegieren, könnte – gerade mit Blick auf die Geschichte des Blattes – die humane Relevanz der christlichen Religion weiter in die säkulare Öffentlichkeit eingebracht werden. Um aber der gewandelten Lage Rechnung zu tragen und in einer religiös pluralen Gesellschaft das Verständnis füreinander zu fördern, wäre die Ergänzung durch Stimmen aus Judentum und Islam zu anderen Daten der jeweiligen Memorialkultur begrüßenswert. Würde hingegen die öffentliche Verständigung über Transzendenz und Religion zunehmend heruntergefahren, ja marginalisiert, zappelten "die metaphysischen Antennen im Leeren" (Thomas Hürlimann).

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