Papst Franziskus ruft dazu auf, mehr zu lesen – ohne dabei einen Kanon vorzuschlagen. Er ist überzeugt: Literatur bewahrt angehende Kirchenleute vor Einkapselung und geistiger Unempfindlichkeit. Und sie ist das Gegenmittel schlechthin gegen das Effizienzdenken und die Auswüchse der digitalen Welt.

Franziskus' Literaturliebe ist bekannt. Letztes Jahr hob der Papst im Rahmen eines Literaturtreffens Dante, Dostojewski und Léon Bloy als von ihm besonders geliebte Autoren hervor. In dem langen, in 44 Abschnitte unterteilten Literaturbrief, den er kürzlich in seiner Sommerpause veröffentlicht hat, dokumentiert er nun weitere Lektüren. Er zitiert Marcel Proust, T. S. Eliot, Jean Cocteau, C. S. Lewis, Jorge Luis Borges und Paul Celan und öffnet damit die Sphäre des Glaubens auf Klassiker der Moderne hin. Mit Celan berücksichtigt er zudem in prominenter Weise jüdische Literatur – ein Wink der Freundschaft ans Judentum.

Es ist ein persönlicher Brief, dessen Sprecherposition nicht nur die des Kirchenoberhaupts ist, sondern auch des Literaturlehrers aus Argentinien, des Bücherwurms und des Literaturmissionars, der tragische Künstler liebt, weil deren Werke Spiegel und "Ausdruck unserer eigenen Dramen" sind. Die Mehrfachperspektive des Briefes dürfte zumal in konservativeren Kreisen einige Irritationen bewirken, fordert doch Franziskus einen "radikalen Kurswechsel" in der literarischen Bildung künftiger Priester, pastoraler Mitarbeiter und im Grunde der ganzen Christenheit.

Abschied von einem normativen Literaturbegriff

Franziskus' Radikalität besteht darin, keinen Kanon vorzuschlagen und Literatur aus deren allgemeiner Affirmation heraus ans Herz und an den Verstand zu legen. "Jeder wird die Bücher finden, die sein eigenes Leben ansprechen und zu wahren Wegbegleitern werden", schreibt er. Das ist eine überfällige Entbindung der Kirche von einem normativen Literaturbegriff und doch auch ein gewagter Schritt, liegt die Abschaffung des Indexes der verbotenen Bücher, historisch gesehen, ja gar nicht lange zurück, knapp 60 Jahre. Und so kann letztlich alles gelesen werden, und aus allem, was gelesen wird, kann ein Nutzen bezogen werden für den Glauben und die Theologie sowie für das eigene Verhältnis zu Gott und der Umwelt.

Benedikt XVI. wäre der Brief wahrscheinlich zu weit gegangen. 2003 warnte Kardinal Ratzinger noch vor "Harry Potter" und sprach von dessen "subtilen Verführungen, die unmerklich und gerade dadurch tief wirken und das Christentum in der Seele zersetzen". Einen Verbündeten wiederum hätte Franziskus vermutlich in Johannes Paul II. gefunden. Kurz nach seiner Inthronisierung als Papst erschienen im Verlag Herder Karol Wojtyłas Betrachtungen und Gedichte "Der Gedanke ist eine seltsame Weite" in der deutschen Übersetzung von Karl Dedecius. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb damals von einem "Papst, der aus der Poesie kommt" – jetzt sind es schon zwei.

Franziskus stützt seine Radikalität, mit der er die "Begegnung des christlichen Ereignisses mit der Kultur der Zeit" fordert und fördert und mit der er für Christen literarische Vielfalt verfügbar macht, mit einem Autoritätsargument. Er beruft sich auf Basilius von Cäsarea, einen Vater der Ostkirche, und auf Paulus und weist auf deren Offenheit gegenüber der klassischen Literatur heidnischer Autoren hin. In deren Werken habe Paulus, und hier zitiert Franziskus den Jesuiten Antonio Spadaro, "eine wahre preparatio evangelica" erkannt, eine Vorbereitung auf das Evangelium.

Bemerkenswert ist auch, wie stark sich Franziskus für eine Zuwendung zum Mitmenschen qua Literatur ausspricht, für die Nächstenliebe, was auch mit seinem Begriff des Priesters als eines Seelsorgers zusammenhängen mag.

Diesem theologischen Diskurs gibt Franziskus auch einen literarischen über das Unterscheidungsvermögen bei, das bei dem Paar "Ausdrucksform" und "Sinn" beginnt, und landet mit dem kerygmatischen Theologen Karl Rahner bei der Verwandtschaft von Priestern und Dichtern "in der geheimnisvollen und unauflöslichen sakramentalen Verbindung zwischen göttlichem und menschlichem Wort" – und dann auch bei einem Wesenszug der Literatur, bei deren Unschärfe, in der es sich aufzuhalten gilt: Der Leser, so Franziskus, ist "eine Person, die aktiv aufgefordert wird, sich auf unsicheres Terrain zu begeben, wo die Grenzen zwischen Heil und Verderben nicht a priori festgelegt und getrennt sind". Man muss kein Gläubiger sein, um solche Gedanken großartig zu finden. Auch die Philologen dieser Welt werden einiges an Franziskus’ Literaturdiskurs zu knabbern haben.

Bemerkenswert ist auch, wie stark sich Franziskus für eine Zuwendung zum Mitmenschen qua Literatur ausspricht, für die Nächstenliebe, was auch mit seinem Begriff des Priesters als eines Seelsorgers zusammenhängen mag. Weg von "abstrakter Menschheit" und hin zum "konkreten Menschen", auch um das "‚Fleisch‘ Jesu Christi nie aus den Augen zu verlieren: dieser Leib, der aus Leidenschaften, Emotionen, Gefühlen, konkreten Geschichten, Händen, die berühren und heilen, Blicken, die befreien und ermutigen, Gastfreundschaft, Vergebung, Empörung, Mut, Unerschrockenheit besteht, mit einem Wort: aus Liebe".

Sich anrühren lassen

Mit Jorge Luis Borges versteht Franziskus das Lesen von Literatur als ein Hören von jemandes Stimme und als ein Schutz vor Selbstisolierung und geistiger Taubheit. Und mit T. S. Eliot beklagt er "die Unfähigkeit so vieler Menschen, sich angesichts Gottes, seiner Schöpfung, der anderen Menschen anrühren zu lassen". Und so ist seine Forderung nach mehr Literatur nur zu nachvollziehbar. Mit ihren Merkmalen "Distanz, Langsamkeit, Freiheit" ist sie ihm das Gegengift gegen Effizienzdenken und gegen die Auswüchse der digitalen Welt mit deren überhandnehmenden Fake News, nicht bloß eine "Form der Unterhaltung" und "unbedeutender Ausdruck der Kultur". Mit ihr soll die "ernsthafte intellektuelle und spirituelle Verarmung der künftigen Priester" aufgehalten und die "Herzens- und Verstandesbildung eines Hirten oder eines zukünftigen Hirten" angeregt werden.

Franziskus' Literaturbegeisterung ist ansteckend, sein Brief ein flammendes und radikales Plädoyer für literarische Vielfalt.

Man wird bei der Lektüre des Briefes auch ein klischeehaftes und veraltetes Verständnis von Geschlechterrollen antreffen: Emotionalität, Fürsorglichkeit und Prinzensuche der Frau auf der einen Seite und der Geschäftsmann auf der anderen – warum nicht umgekehrt? Dieses Verständnis ist überholt, lesenswerte Gegenwartsliteratur erteilt ihm eine klare Absage. Doch es sind die kleinen Schritte, die einen erfreuen: Franziskus' Literaturbegeisterung ist ansteckend, sein Brief ein flammendes und radikales Plädoyer für literarische Vielfalt und deren christliche Nutzbarmachung durch Funktionsträger der Kirche und Gläubige. Diesmal wird er seinem Ruf als Reformer durchaus gerecht: Er ist ein Literaturbildungsreformer.

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