Es gibt Wendepunkte, die dem Leben eine neue Ausrichtung verleihen können. Einen solchen erfährt der Komponist Francis Poulenc (1899-1963) im Jahr 1936. Wieder einmal verbringt er den August im französischen Ort Uzerche, um dort mit dem Sänger Pierre Bernac und in Begleitung von Yvonne Gouverné zu arbeiten. Gerade in Uzerche angekommen, erreicht ihn die Nachricht vom plötzlichen Tod seines Pariser Kollegen, Pierre-Octave Ferroud, der in Ungarn bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Der Schock über das unerwartete Ableben des erfolgreichen, ein Jahr jüngeren Komponisten trifft den 37-jährigen Poulenc schwer. "Der grausame Tod dieses starken Musikers hatte mich erschüttert. Während ich darüber nachdachte, wie wenig Gewicht unsere menschliche Hülle hat, zog mich das spirituelle Leben wieder an", bekundet Poulenc rückblickend (Francis Poulenc, Entretiens avec Claude Rostand, Paris 1954, 108). Der Tod des Kollegen wird für ihn zum Anlass, das eigene Leben und bisherige kompositorische Schaffen zu reflektieren.
Der junge, talentierte Poulenc hatte sich im Paris der Zwischenkriegszeit bereits einen Namen gemacht und gehörte dem Komponistenkreis der "Groupe de six" um Eric Satie und Jean Cocteau an. Poulenc galt als couragierter, literarisch feinsinniger Musiker, der in den angesagtesten Künstlerkreisen verkehrte und in den Pariser Salons namhafte Autoren kennenlernte, darunter Guillaume Apollinaire, Paul Éluard, Paul Valéry, Camille Claudel und James Joyce. Zugleich kokettierte Poulenc mit dem "leichten" Pariser Leben, er liebte Tanzvergnügen, Bars, Cafés und Nachtclubs. Diese beiden sehr unterschiedlichen Milieus, "innovative Sprachkunst von höchstem Anspruch und unbekümmertes volkstümliches Amüsement, Elfenbeinturm und Variété" prägten auch das Schaffen des aufstrebenden Musikers. "Klamauk, Provokation, gepflegte Arroganz und ein Instinkt für effektvoll eingesetzte Anstößigkeiten wurden zu seinem 'Markenzeichen'".
Was genau Poulenc bei seinem Besuch in Rocamadour widerfuhr, bleibt sein unausgesprochenes Geheimnis. Er hat es in Klänge gefasst.
Angesichts des Todes seines Kollegen Pierre-Octave Ferroud stellt Poulenc im August 1936 sein Schaffen auf den Prüfstand: Gab es unter all der glänzenden, unterhaltsamen Oberfläche so etwas wie eine musikalische Tiefe? In Uzerche erinnert er sich an den nahe gelegenen Marienwallfahrtsort Rocamadour, von dem sein Vater früher oft gesprochen hatte. Beide Eltern waren früh verstorben, Poulenc war beim Tod der Eltern gerade einmal 16 bzw. 18 Jahre alt. Sein Vater war ein tief gläubiger Katholik gewesen, Francis Poulenc selbst hatte sich – auch unter dem Einfluss der religiös indifferenten Mutter – bald vom Glauben abgewandt. Im Sommer 1936 nun bittet er seinen Freund Bernac, ihn mit dem Auto nach Rocamadour zu bringen. Gemeinsam besuchen sie die an einer Steinklippe gelegene Marienwallfahrtskirche mit der wundertätigen Staute der schwarzen Madonna aus dem 12. Jahrhundert, die der Überlieferung nach vom Heiligen Amadour bzw. Zachäus aus schwarzem Holz geschnitzt worden sein soll. "Rocamadour brachte mich zum Glauben meiner Kindheit zurück. Dieses Heiligtum, das wahrscheinlich das älteste in Frankreich ist …, hatte alles, um mich in seinen Bann zu schlagen" (Entretiens, 108).
Zwischen Surrealismus, Nightclub und Kirchenmusik
Was genau Poulenc bei seinem Aufenthalt in Rocamadour widerfuhr, bleibt sein unausgesprochenes Geheimnis. Er hat es in Klänge gefasst: In nur sieben Tagen entstehen die Litanies à la Vierge noire – das erste religiöse Werk Poulencs, dem viele weitere folgen sollen, darunter eine Messe, sein Stabat Mater und seine berühmte Oper Dialogues des Carmélites. In den Litanies vertont Poulenc den auf einem Andachtsbildchen in Rocamadour abgedruckten Text einer Litanei, die sich an Christus, das Lamm Gottes, die Dreifaltigkeit und an Maria als Jungfrau, als Königin, als "Notre-Dame" richtet. Immer wieder kehrt das Motiv "priez pour nous" – "bitte für uns", "ayez pitié de nous" – "hab Erbarmen mit uns". Die Ausdruckspalette des klingenden Bittgebetes reicht von sanften, zarten Tönen bis hin zu eindringlichem, flehentlichem dreifachem Fortissimo. Die Klänge scheinen dem Komponisten aus der Seele geflossen zu sein. Die schlicht gehaltene, gregorianisch anmutende Melodie der drei Frauen- bzw. Kinderstimmen, kommentiert von der Orgel, zeugen von einer besonderen Demut und Innigkeit. Sie sollen Poulenc zufolge eine einfache, "bäuerliche Frömmigkeit" wiedergeben, die ihn an diesem Ort stark beeindruckt hat. An die befreundete Komponistin Nadia Boulanger schreibt Poulenc noch aus Uzerche, überzeugt von der Authentizität und Bedeutung des kurzen Chorstückes, die Litanies seien "eines der zwei oder drei Werke, die ich auf die sprichwörtliche einsame Insel mitnehmen würde" (Myriam Chimènes [Hg.], Francis Poulenc. Correspondance 1910-1963, Paris 1994, 36-20).
Der Glaube, den Poulenc im August 1936, diesem "entscheidenden Datum in meinem Leben und meiner Karriere" (Entretiens, 108) wiederfindet und der ihm in einer Phase der Krise Trost, Halt und eine neue Perspektiven gegeben hat, begleitet ihn fortan, auch in schweren Zeiten seines unerwiderten Liebeslebens, seiner spät eingestandenen Homosexualität, seiner stark ausgeprägten manisch-depressiven Phasen. Der Komponist, der in unterschiedlichen Milieus beheimatet war und dessen Werk "zwischen Surrealismus, Nightclub und Kirchenmusik" changiert, hat in Rocamadour zu einer musikalischen Tiefe und Authentizität gefunden. An der Bedeutung seines Glaubens hielt er fortan fest: "Ich bin katholisch. Das ist meine größte Freiheit" (Entretiens, 107).