Unter der an Bombast und (pop-)kulturellen Zitaten reichen Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele wird eine Szene besonders kontrovers aufgenommen: Was zeigt die grellbunte Tafel mit siebzehn Dragqueens, einer zentralen Barbara Butch – DJ und queere Aktivistin – mit dem "Heiligenschein einer olympischen Musikgottheit" und dem Sänger Philippe Katerine als Dionysos in blau?
Ist dieses olympische Bewegtbild (tableau vivant) ein Abendmahl oder ein Bacchanal? Wäre es im ersten Fall eine "Persiflage", gar eine "Perversität" oder "Blasphemie", wie es in manchen ersten Reaktionen hieß? Oder sind solche Reaktionen ihrerseits ein "Bacchusgate", das letztlich die tatsächliche "Traditionslosigkeit" ihrer Leser bloßstellt? – Nämlich, weil sie verkannten, dass es eine der Szenerie viel nähere Vorlage gebe, und zwar das Fest der Götter Jan van Bijlerts (~1635-40), mit zentralem Apoll mit Strahlenkranz und Bacchus/Dionysos im Vordergrund.
Das trägt zur Vereindeutigung aber nur begrenzt bei: Schließlich ist van Bijlerts Werk erkennbar beeinflusst von da Vincis Bildkomposition: Man vergleiche nur die früheren Gestaltungen des Themas, von Bartolomeo di Giovanni über Bellini, Hendrik van Balden und anderen. Das Götterbankett findet bei van Bijlert nicht in einer idyllischen Waldlandschaft statt. Die zusammenkommenden Gottheiten sind vielmehr an einem schwebenden Tisch mit weißen Leinen in einer Form arrangiert, die auf Leonardos Bildaufbau zurückführt.
Leonardo hatte die Darstellung zentralperspektivisch komponiert, und zwar von einem an der Schläfe der Christusfigur eingeschlagenen Nagel aus. Er zeigt ein dynamisiertes Quasi-Bewegtbild: Wo frühere Renaissance-Darstellungen die Apostel eher statisch platzieren, sind sie im entscheidenden Augenblick der Ankündigung des Verrats aufgewühlt (Mt 26,11). Jeden der in Dreiergruppen verbundenen Apostelköpfe hatte Leonardo individualisiert in Einzelstudien vorbereitet, ebenso die Gestik und besonders die Handhaltungen. Il Cenacolo hat sich in das kulturelle Gedächtnis eingeschrieben wie wenig andere Bilder, nicht zuletzt als ein Werk, das vor umgreifende Fragen stellt: Was ist der Mensch – angesichts des Dramas der (Heils-)Geschichte, als Individuum in sozialen und kultischen Gefügen?
Die göttliche Konkurrenz
Die Überblendung mit einem Bacchanal verschärft das: Wie steht es um die menschliche Existenz zwischen Freiheit, Norm und Normüberschreitung, wie um Hoffnung und Fantasie des Menschen, deren Fluchtpunkte und Verdichtungen, und deren – reale oder fantastische – Gegenwelten?
Schließlich ruft die Zusammenführung von Abendmahl und Bacchanal ikonographisch, motiv- und religionsgeschichtlich weitreichende Verflechtungen auf: Von Böhme über Hölderlin (siehe etwa Uwe Beyer, Christus und Dionysos, 1992), Heine, Ibsen, Nietzsche bis Hauptmann wird der Gegensatz Christus – Dionysos als Interpretament der conditio humana herangezogen: "Erst dieser Urgegensatz Christos – Dionysos hat den Weltprozeß mit all seinen Entsetzlichkeiten und großartigen Schöpfungen entbunden" (Felix A. Voigt, Nachwort zu Gerhart Hauptmann, Der Dom, 1942).
Ein solcher Deutungshorizont hat einen komplexen motivischen Hintergrund. Religionsgeschichtlich führt er zurück bis auf jene biblischen Narrative, die ihrerseits bereits die "göttliche Konkurrenz" von Dionysos und Christus bearbeiten, wie die Hochzeit zu Kana.
Nicht zuletzt stehen gerade die elementaren Symboldimensionen des Abendmahls in ambivalenter Beziehung zu den dionysischen Kulten, wie vielfach nachgezeichnet wurde (beispielsweise schon bei Walter Burkert, Homo Necans, 1972, oder Jan Kott, Gott-Essen, 1975).
Diesen vielfältigen Komplexitäten gegenüber sind Wahrnehmungen, die die Pariser performance einseitig auf christliche Bildwelten engführen, einerseits nicht grundlos, andererseits offensichtlich verkürzend.
Es ist eine Entscheidung, ob man die Szene liest als ein Werk, das – als Kunstwerk – verdichtet vor Fragen stellt: Wenn ja, dann steht (mit Umberto Eco) die intentio operis im Zentrum, also der Werksinn, wie er interpretativ erhebbar und bestreitbar ist – und zu unterscheiden ist von bloß subjektiven Lesarten (intentio lectoris) oder einer intentio auctoris, wie sie Urhebern subjektiv präsent ist und gegebenenfalls in ihren Äußerungen auch zum Werksinn in Spannung steht. Der künstlerische Leiter der Eröffnungsfeier Thomas Jolly etwa wollte "keineswegs subversiv sein, spotten oder schockieren", sondern "eine Botschaft der Liebe senden, eine Botschaft der Inklusion, und keineswegs eine Botschaft der Spaltung".
Die Ehre Gottes ist unantastbar
Die Rezeption ist stattdessen ausdrücklich gespalten. Das ist wenig erstaunlich vor einem Wahrnehmungshorizont transnationaler Culture Wars, die seit geraumer Zeit Identitätspolitik gerade auch religiös aufladen.
Dagegen ist aus theologisch-normativer Perspektive nicht nur klar, dass schlechterdings "die Ehre Gottes unantastbar" ist, wie es vor einigen Jahren Reinhold Bernhardt formuliert hat (ganz ähnlich wie im damaligen Kontext weitere christliche wie muslimische Gesprächspartner).
Parodiert wird, was wichtig ist. Selbstbespiegelung, -inszenierung oder -befragung, sei sie affirmativ oder kritisch, funktioniert nur mit einer Referenz, deren Bedeutsamkeit, auch noch wo sie negiert wird, noch von Relevanz ist.
Davon abhebbar ist eine Ebene, die Gesichtspunkte einer medienethischen Abwägung einbezieht, wie Status und Wirksamkeiten: Parodiert wird, was wichtig ist. Selbstbespiegelung, -inszenierung oder -befragung, sei sie affirmativ oder kritisch, funktioniert nur mit einer Referenz, deren Bedeutsamkeit, auch noch wo sie negiert wird, noch von Relevanz ist. Sieht man hier also christliche Bild- und Symbolsprache als Bezugsrahmen, beobachtet man dann nicht gleichzeitig deren – vielleicht eher erstaunliche – Wirkmacht?
Demgenüber ist frappant, in welcher Vielzahl Kommentatoren eine Karikierung jüdischer oder islamischer Bildtraditionen hier "vermisst" haben.
Aber um auf den Werksinn zurückzukommen: Wie verhält sich gegenüber den verkürzenden Rezeptionen die Voranstellung von Philippe Katerines Lied "Nu", das er in Dionysos-Gestalt vortrug: "Gäbe es Kriege, wenn wir ganz nackt blieben? – Nein"? – Wie nimmt sich das aus gegenüber dem Gesamt dionysischer Kultbezüge, für die nicht nur ekstatische Grenzüberschreitung zentral waren, sondern spezifisch sparagmós (das Zerreißen eines tierischen oder menschlichen Opfers) und ōmophagía (das Verspeisen der Fleischstücke)? Gibt es werkimmanente Anhaltspunkte, dass dieser Widerspruch bewusst wäre?
Und was sagt es aus, in dieser Szene das Thema "Festivité" – wie die achte Sequenz der Cérémonie d’ouverture betitelt war – zu verdichten? Harvey Cox hatte einst, festgemacht am mittelalterlichen "Fest der Narren" (1970), die Festkultur einer Gesellschaft als seismografisch vorgestellt, mit der These, dass "alle uns gebliebenen Formen der Festlichkeit und der Fantasie verkümmert und vereinzelt sind. Unser Feiern verbindet uns nicht mehr wie früher mit der großartigen Entfaltung der kosmischen Geschichte oder mit den großen Geschichten vom geistigen Ringen der Menschheit." – Wie verhält sich dazu, was hier zu sehen ist?