"Die Kirchen haben den Bezug zum Mysterium verloren"Ein Aschermittwochsgespräch mit Thomas Hürlimann

Der Schriftsteller Thomas Hürlimann ist dem Tod schon dreimal von der Schippe gesprungen. Er sagt: "Es fällt mir sehr viel leichter, an den Tod am Kreuz zu glauben als an die Auferstehung." Für den Wunsch nach aktiver Sterbehilfe im Grenzsituationen hat er Verständnis.

Thomas Hürlimann
© Ruth Brozek

Jan-Heiner Tück: Herr Hürlimann, für den säkularen Kalender ist heute ein ganz gewöhnlicher Tag, die Kirche aber begeht den Aschermittwoch – eine Zäsur, die das karnevalistische Treiben beendet und die Fastenzeit beginnen lässt. Was verbinden Sie mit diesem Tag?

Thomas Hürlimann: Noch in meiner Jugend kam auf den Tisch, was die Jahreszeit bot, etwa Birnenkompott im Herbst oder Kartoffeln nach der Ernte, der Jahreskreis zeigte sich auch im Speiseplan. An der Fasnacht wurden Fasnachtskrapfen gebacken, in der Karwoche wurde kein Fleisch gegessen, der Sonntag wurde auch durch den Braten geheiligt. Heutzutage ist die Gegenwart in die Breite gestampft, in die ewige Dauer. In den Truhen des Supermarkts – ich komme gerade vom Einkaufen – liegt ein ganzes Jahr plastikverschweißt auf Eis: Fondue neben Frühlingsgemüse, im Winter gefangene Fische aus der Nordsee neben Erdbeeren aus Spanien. Deshalb hätte ich den Aschermittwoch ohne Ihre Frage gar nicht bemerkt. Der Ritus schwindet, überall.  

Tück: "Bedenke, Mensch, dass du Staub bist und wieder zum Staub zurückkehrst" – das sagt der Priester, während er Asche auf das Haupt der Gläubigen streut. Ist dieser Ritus nicht eine einzige Provokation?

Hürlimann: Es würde uns guttun, wenn uns dieser Ritus noch provozieren könnte. Das Wort vom Staub ist weggesaugt worden, das kennt man nicht mehr. Ich habe wegen einer Krebserkrankung lange Zeit in Krankenhäusern gelegen und lauerte darauf, jemals das Wort Tod zu hören. Ich lauerte vergeblich. Auf nächtlichen Gängen durch die leeren Spitalflure sah ich manchmal, wie ein Bett mit einem Verstorbenen weggerollt und das Zimmer chemisch gereinigt wurde. Die Leichen verschwanden nachts, durch den Hinterausgang. Wie man im Mittelalter den Teufel fürchtete, fürchtet der Jetztmensch den Tod. Damals war der Teufel tabuisiert, weder durfte man ihn nennen noch an die Wand malen, heute ist das Wort Tod ausgemerzt.

Der Tod demonstriert seine Macht

Tück: Der Tod ist die Gegenwirklichkeit schlechthin. Ist es nicht verständlich, dass man versucht, den Tod aus der Sprache zu verdrängen und die Toten klammheimlich zu entsorgen?

Hürlimann: Entsorgen kann man ihn nicht. Ich meine, es war Foucault, der darauf hinwies, dass praktisch am selben Tag, da Paris die Trauerzüge aus verkehrstechnischen Gründen aus der City verbannte, ein bisher unbekanntes Phänomen in der Öffentlichkeit erschien: der Drogenhandel, der für viele, hauptsächlich Jugendliche, tödlich endete. Zum ersten Mal verzog sich Kriminalität unter den Augen der Polizei und der Passanten – der Tod demonstrierte seine Macht. Insofern ist es wirklich klüger, dem modernen Satan im Ritus zu begegnen. Da ist er zum einen zwar unerbittlich: Mensch, du wirst zu Staub! – aber zum andern ist der Ritus die ewige Wiederholung des Gleichen. Unsere Zeit ist also beides: vergänglich und unvergänglich. Jedes Dasein geht auf den Tod hin, selbst Gebirge verwittern, das macht die auf das Haupt gestreute Asche klar. Aber zugleich liegt in der jährlichen Wiederkehr des Aschentags ein großer Trost, nämlich die Verheißung, dass es eine Zeit gibt, die uns aufnimmt in ihren Kreis. Da erreicht uns der Tod nicht. 

Tück: Sie selbst sind dem Tod dreimal von der Schippe gesprungen. Beim Schwimmen auf der Insel Bornholm, wo Sie die Strömung beinahe ins offene Meer abgetrieben hätte, dann bei einem nächtlichen Autounfall in der Schweiz, zuletzt bei einer riskanten Operation im Spital. Das Gefühl, durch Schutz und Schirm noch einmal bewahrt worden zu sein – verändert das die Sicht auf das Leben?

Hürlimann: Hauptsächlich verändert es die Sicht auf den Tod. Beim Autounfall habe ich von meinen acht Litern Blut fast die Hälfte verloren. Ich spürte, wie meine Zeit abfloss, wie sie zu versickern drohte, aber seltsamerweise löste das keine Panik aus, eher Euphorie. So schön hatte ich den Sternenhimmel der Maiennacht noch nie gesehen. Der Krankenwagenfahrer sagte mir später, ich hätte ihn gebeten, mich liegenzulassen – ich wollte in meinem Glückszustand nicht gestört werden. Ein halbes Jahr vermied ich es, mich in ein Auto zu setzen, aber schließlich saß ich wieder am Steuer, und klar, fortan fuhr ich vorsichtiger. Und lebte bewusster – als hätte ich unterm Sternenhimmel der Maiennacht begriffen, was für ein unglaubliches Geschenk das Leben ist.

Danken und Denken

Tück: Das Geschenk wäre allemal Anlass, dem Geber zu danken. Aber das Kreuz des Glaubenslosen ist nach Canetti, dass er niemanden hat, dem er danken kann ...

Hürlimann: Heidegger hat Denken und Danken als verwandtes Begriffspaar verstanden. Insofern ist ein Bedenken des Lebens als Geschenk bereits ein Danken für dieses Geschenk. In jener Nacht, da ich verunfallt war, trat eine junge Frau mit ihrem Baby ins Fenster, um es zu stillen. Da entdeckte sie auf der Straße eine Blutspur. Sie weckte ihren Mann, einen Metzger, und bat ihn, das angefahrene Reh abzutun. Das Reh war ich, und mein Dank geht bis zum heutigen Tag an die Madonna mit ihrem Kind im Fenster unter den Sternen der Maiennacht.

"Es gibt Schmerzen, die kein Mittel dämpfen kann, auch nicht das flüssige Morphium. Was in dieser Zone geschieht, darf nicht eine Moral entscheiden, die unter normalen Verhältnissen richtig sein mag, aber an der Grenze versagt."

Tück: Das unglaubliche Geschenk des Lebens kann bei schwerer Krankheit zur unerträglichen Last werden. Immer lauter wird die Freigabe der aktiven Sterbehilfe gefordert – zu Recht? 

Hürlimann: Ja. Es gibt Schmerzen, die kein Mittel dämpfen kann, auch nicht das flüssige Morphium. Was in dieser Zone geschieht, darf nicht eine Moral entscheiden, die unter normalen Verhältnissen richtig sein mag, aber an der Grenze versagt. Da soll der Einzelne die Möglichkeit haben, die Entscheidung selbst zu treffen, vielleicht im Gespräch mit Gott. Einmal war ich entschlossen, meinen Schmerzen zu entfliehen, ich hielt sie nicht mehr aus. Mit meinem Infusionsständer schaffte ich es, auf die Dachterrasse des Basler Merian-Iselin-Spitals zu gelangen. Ich überlegte, ob die Höhe für einen tödlichen Sturz reichte – in diesem Moment begannen in der Stadt die Glocken zu läuten. Es war ein Samstagabend. Zehn Tage später wurde ich von einem Arzt, Professor Alexander Bachmann, den meine Schwester in einer detektivischen Recherche aufgespürt hatte, erfolgreich operiert.

Tück: Aber haben Sie die Glocken nicht auch als Wink wahrgenommen, den letzten Schritt nicht zu tun – gleichsam als Warnung vor einer Grenzüberschreitung?

Hürlimann: Das weiß ich nicht mehr. Aber wahrscheinlich denkt man in der tiefsten Verlassenheit über diesen Moment nicht hinaus. Die Passion schildert es eindrücklich. Im Schrei am Kreuz war Jesus selbst vom Vater verlassen. Man könnte sagen: Er hat die Grenze überschritten. Ihn hätte eine Warnung, etwa von seiner Mutter oder von Johannes, sich nicht gegen den Vater zu wenden, wohl nicht mehr erreicht, deshalb schwiegen die beiden, sie wussten: Der Gekreuzigte war im Leid und in der Verzweiflung ganz allein. Es war die höchste Einsamkeit, die je über der Welt erreicht wurde. 

Tück: Chesterton hat einmal notiert, dass die Verzweiflung an Gott, der Atheismus, auf Golgatha in Gott selbst eingetragen worden sei – genau darin hat er die Singularität des Christentums gesehen – würden Sie zustimmen?

Hürlimann: Der unsterbliche Gottessohn hat sich am Kreuz mit uns Sterblichen identifiziert. Aber darüber hinaus war es ihm durch diesen Tod möglich, uns das leere Grab zu zeigen. Er identifizierte sich mit uns, um uns auf die wahre Singularität des Christentums hinzuweisen: die Auferstehung, das Ostergeschehen.

Glauben und Unglauben

Tück: Die Fastenzeit läuft zunächst auf die Passionswoche zu, die Fußwaschung, das letzte Abendmahl, den Verrat, das Ringen im Ölberggarten, die Festnahme, den Prozess, die Kreuzigung. Wie wichtig ist die Erinnerung an die Stationen des Leidens und Sterbens Christi für die Passanten einer immer schnelllebigeren Gegenwart?

Hürlimann: Die christlichen Kirchen haben den Bezug zum Mysterium verloren, auch das Verständnis für die Passion. Das war noch vor wenigen Jahrzehnten anders. Die Karwochen-Prediger meiner Jugend haben sich vor dem Tod nicht weggeduckt, sondern verstanden es, ihn theatralisch zu beschwören – sodass in den Bänken alle die Köpfe einzogen, wie unter einem gewaltigen Donner. In meiner Heimatstadt starb während einer Karwoche in den späten Fünfzigerjahren völlig überraschend eine junge schöne Frau, die stadtbekannte und beliebte Gemüsehändlerin. Das nahm der Kapuzinerpater in der brechend vollen Kirche St. Michael zum Anlass, die Kanzel zu betreten und dann zu schweigen – so lange zu schweigen, bis alle zu ihm hochstarrten. Dann sprach der bärtige Pater mit Grabesstimme: "Die schöne Marlies." Pause. "Ihr alle habt sie geliebt." Pause. "Sie ist tot." Lange Pause – unvergesslich.

"Thomas ist der moderne Mensch schlechthin. Er ist in seinem Glauben unsicher. So geht es vielen von uns, auch mir. Man wird zwischen Glauben und Unglauben hin- und hergeworfen."

Tück: Die Macht des Schweigens, der Abgrund des Todes, Asche und Staub … Nach dem tödlichen Verstummen des Wortes Gottes am Karfreitag kommt Karsamstag, der Tag der Abwesenheit, des Sprachverlustes. Den müssen wir aushalten. Und untergründig geschieht eine alles umstürzende Detonation der Wirklichkeit: Die Macht des Todes wird gebrochen. Der Gekreuzigte lebt – und dann der ungläubige Thomas, er will Zeichen, will mit den Händen betasten – eine Symbolfigur gegen die Osterskepsis?

Hürlimann: Thomas ist der moderne Mensch schlechthin. Er ist in seinem Glauben unsicher. So geht es vielen von uns, auch mir. Man wird zwischen Glauben und Unglauben hin- und hergeworfen. Seltsamerweise habe ich öfter festgestellt, dass es mir sehr viel leichter fällt, an den Tod am Kreuz zu glauben als an die Auferstehung. Da bin ich ein ungläubiger Thomas. Aber wie Gottfried Keller an einem schönen Pfingsttag plötzlich merkte, dass der Tag durch das religiöse Fest etwas Besonderes war, hoffe ich auf ein ähnliches Erlebnis an Ostern. An jenem Pfingsttag, Keller erzählt es in einem Brief, wurde er in seinem Atheismus, der ihm von Feuerbach eingeimpft worden war, plötzlich unsicher. Hoffen wir, dass es uns allen an Ostern ähnlich ergeht. Vom heutigen Aschermittwoch an haben wir ja vierzig Tage Zeit, uns auf dieses Wunder einzustellen. Denn in diesem Punkt hat sich der ungläubige Thomas geirrt. Der Glaube setzt keinen Beweis, aber eine gewisse Bereitschaft voraus, sich auf das Numinose einzulassen. Nur wer an Wunder glaubt, erlebt sie auch.  

Tück: Eines Ihrer letzten Bücher heißt "Heimkehr" – ein Titel mit eschatologischen Obertönen?

Hürlimann: Ich bin eben dabei, den Roman für eine neue Ausgabe durchzusehen – und staune, dass das Buch klüger und frommer ist als sein Autor. Es ist ja wahr, Novalis hat recht: nach Hause, immer nach Hause!

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