Hände weg von BachEin Einspruch

Soll man wegen antijüdischer Inhalte auf die Aufführung von Bachs Matthäus- und Johannes-Passion verzichten? Warum der Vorschlag des niedersächsischen Antisemitismus-Beauftragten Gerhard Wegner in die Irre geht.

Orchester
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Das Gespenst des Antisemitismus ist wieder da. Genauer: Er war nie ganz weg – und zeigt neuerdings wieder ganz unverhüllt seine Fratzen. Seit dem 7. Oktober 2023 gibt es judenfeindliche Demonstrationen auf den Straßen und an den Universitäten. Der Antisemitismus hat vielfältige Ursachen und unterschiedliche Erscheinungsweisen. Der kirchliche Antijudaismus ist ebenso ein Problem wie der rassenbiologische Antisemitismus von rechts und der Israelhass von links.

Nicht nur Literatur und Kunst, auch die Musik kann Transmissionsriemen judenfeindlicher Einstellungen sein. So ist die Passionsmusik Bachs gerade in den Fokus der Aufmerksamkeitsökonomie gerückt.

Ist hier nicht ganz pauschal von "den Juden" die Rede? Werden sie hier nicht völlig undifferenziert für die Kreuzigung Jesu verantwortlich gemacht? Flackert damit nicht der alte Gottesmordvorwurf neu auf? Ist das heutigen Juden in Deutschland zumutbar? Der Antisemitismusbeauftragte des Landes Niedersachsen, Gerhard Wegner, hat das Problem soeben identifiziert und gefordert, aus Solidarität mit den heutigen Juden die Aufführungen von Bachs Johannes-Passion eine Zeit lang auszusetzen.

Wegner hat gesellschaftspolitisch recht: Die Solidarität ist geboten, denn jüdisches Leben ist heute auch in Deutschland wieder gefährdet, es ist, als habe der Imperativ "Nie wieder" der Pädagogik nach Auschwitz keine Früchte getragen. Wegner hat auch in theologischer Hinsicht recht: Die unterschiedlichen Stränge des kirchlichen Antijudaismus sind selbstkritisch aufzuarbeiten und Liturgie, Katechese und Theologie an den Standards wissenschaftlicher Erkenntnis auszurichten. Historische Kontextualisierung und kritische Kommentierung sind die Instrumente, die Texte der Tradition zu bearbeiten.

Ein Problem schafft man nicht aus der Welt, indem man Verbote ausspricht, Zensuren vornimmt oder kanonische Texte umschreibt.

Aber ein Problem schafft man nicht aus der Welt, indem man Verbote ausspricht, Zensuren vornimmt oder kanonische Texte umschreibt. Die Forderung, die Aufführung von Bachs Passionsmusik interimistisch auszusetzen, ist falsch. In einer Verlängerung solcher Zensuroptionen müsste man auch die Rezitation des Johannesevangeliums im kirchlichen Gottesdienst untersagen, es modelliert ja die Gegnerschaft zwischen dem Juden Jesus und "den Juden" besonders scharf heraus und bemüht sogar den Topos der "Synagoge des Satans". Wegner spricht von der "Suggestion, dass die Juden am Tode Jesu schuld seien". Ein Choral in Bachs Johannes-Passion weist in eine andere Richtung. Auf die Frage: "Wer hat dich so geschlagen?" lautet die Antwort nicht etwa "die Juden", sondern: "Ich, ich und meine Sünden". 

Ob zudem ausgerechnet das Auditorium von Bach-Passionen einen Hotspot heutiger Judenfeindschaft darstellt? Neben der erschreckenden Wiederkehr des Antisemitismus im politisch rechten wie linken Spektrum sind wir heute verstärkt mit Formen eines importierten Antisemitismus konfrontiert – ein Problem, das islamische Intellektuelle wie Bassam Tibi und Mouhanad Khorchide wiederholt angemahnt haben. Alle diese Formen des Antisemitismus aus Solidarität mit den Juden in Deutschland zu bekämpfen, ist das Gebot der Stunde. Nicht aber die Zensur der Passionen von Bach.

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