Jan-Heiner Tück: Sie sind in der ehemaligen DDR in einer Luft ohne Gott aufgewachsen. Wie kam es dazu, dass Sie nach dem "größeren Gegenüber" Ausschau gehalten haben?
Uwe Kolbe: Der Theologe wird hier eine gute Antwort finden. Eine, die vom Einzelnen wegführt zur Gemeinschaft, vielleicht in eine Konvention, die verdaulich absieht von allzu direkter – womöglich eitler? – Autobiografie. Ich habe in diesem, kann sein, in gar keinem Sinne Theologie. Ich war allein. Die ersten sechs Lebensjahre, die Zeit des Herumtreibens, bevor ich selbst lesen konnte, waren die ersten der Einsamkeit. Da muss sich die Basis gebildet haben. Ich hielt Ausschau. Dann kamen die Bücher, wie sie, nach glücklicher Landung in Ostberlin, in der öffentlichen Kinderbibliothek standen. Im proletarischen Hausstand keine Vorgaben, man ließ mich in Ruhe. Der Jugendliche dann suchte das Gespräch unter seinesgleichen. Zu der Zeit ein erster Blick in die Bibel. Es mag seltsam klingen, aber die uns selbstverständliche Kritik der Verhältnisse – in den frühen 1970er Jahren, einer kulturell und offenbar sogar bildungspolitisch liberalen Zeit der Jahre von Honeckers Machtantritt bis zur Biermann-Ausbürgerung – holte sich ihr Futter außer bei den zugelassenen linken Klassikern auch stets in Referenzen und Rückgriffen auf den abendländischen Kontext. Antike Denker und christliche Bildwelten formulierten immer mit an unserem jugendlichen Weltbild. Das Schreiben von Gedichten und der Anspruch an den ernsthaften, dringlichen und selbstverständlich "ehrlichen" Austausch etablierte einen Gestus. Dieser Gestus fand sein Gegenüber nicht bei denen, die auf Pathos oft nur mit Sarkasmus reagierten. Es blieb da immer etwas unerfüllt.
Tück: Die atheistische Religionskritik, die Sie in sich aufgesogen haben, hält Ihnen entgegen, dass das größere Gegenüber nicht mehr sein kann als eine schöne Fiktion. Und doch riskieren Sie in Ihren Psalmen diese Suchbewegung auf den Anderen zu …
Kolbe: Pardon, aber in meinen Psalmen ist es längst mehr als eine Suchbewegung. Das Umspielen des Namens in Jahrzehnten zuvor war zur akuten Anrufung geworden. Vielleicht wird es noch Gelegenheit geben, dem literarisch anders Ausdruck zu verleihen. Zu jener Art Religionskritik: Wer einmal deren eitle Trivialität erkennt, geht nur umso glücklicher mit Gott seiner Wege. Um den Juristen Udo Di Fabio zu zitieren, der hier die Präambel des Grundgesetzes kommentiert: "Jede geistige und politische Konstruktion, die meint, ohne Demut auskommen zu können, führt die Menschen in gefährliche Irrtümer, daran erinnert die nominatio dei, die Verantwortung vor Gott."
Zeitgenössisch echte, begeisterte Bejahung stimmig auszudrücken, ist der höchsten Kunst vorbehalten. Und überhaupt braucht es, Glück auszudrücken, Glück.
Tück: Die Erhabenheit oder Schönheit der Natur kann ein Ort sein, an dem man Erfahrungen menschlicher Selbsttranszendenz macht, aber auch sonst kann es Momente geben, in denen man sich in ein Größeres aufgehoben fühlt, Augenblicke der Dankbarkeit. Sie sprechen von der Erfahrung, als Kind bei der Hand gehalten zu werden. Stehen solche Erfahrungen im Hintergrund mancher Ihrer Gedichte?
Kolbe: An betreffender Stelle, wo es um die Hand geht, spricht ein Vermissen. Anders als in den Psalmen, wo es heißt: "Dennoch bleibe ich stets an dir; denn du hältst mich bei meiner rechten Hand" (Ps 73,23), habe ich solche Erfahrungen der Geborgenheit nicht gemacht. Die Natur, das Draußen, unerhört offene Himmel von verschiedener Art sind aber für meinen Fall nicht wichtig genug zu denken als Erfahrungsraum auf Transzendenz hin.
Tück: "Das Lied ohne Gott ist tonlos" – heißt es in Ihrer Sammlung der Psalmen. Was fehlt, wenn Gott fehlt?
Kolbe: Ernsthaftigkeit und Richtung des Sprechens resp. Singens vom Grund her. Dafür braucht es ja nicht das besondere Wort, weder die Gemme noch den grammatischen Rösselsprung. Vielleicht nur das Aufschauen in einem "und". (Der letzte Satz gehört meinem Freund Dr. Thomas Wild.)
Tück: "Halleluja" und "Hosianna" – das sind klangschöne Wendungen der hebräischen Sprache, die für das Ohr eines Dichters Spuren legen können – oder?
Kolbe: Diesem Jubel zu lauschen, ist herrlich. Einzustimmen im guten Moment, erst recht. Zeitgenössisch echte, begeisterte Bejahung stimmig auszudrücken, ist der höchsten Kunst vorbehalten. Und überhaupt braucht es, Glück auszudrücken, Glück.
Tück: Lesen oder beten Sie die Psalmen Israels?
Kolbe: Es gibt tausend Gelegenheiten, zu ihnen zurückzukehren. Aber ich bin ein Banause. Wäre ich ein Mönch, jeder Tag wäre erfüllt von ihnen. Aber ich bin ein Banause. Die Tage gehen dahin. Wo es still wird in mir, sind sie nah. Ihre großen Töne sind mir fern, das Wort vom Feind ist es, das Wort vom Volk. Wo es still wird, verstehe ich das Wort Gott.
Mich ergriff ein tiefer Schauer, als ich gewahr wurde, dass Jesus am Kreuz einen Psalm zitiert.
Tück: Haben Sie einen Lieblingspsalm?
Kolbe: Nicht sehr originell: der 90te, der Mose zugeschrieben wird. Er umfasst die Schöpfung und unser Werden als ein großes Gedicht. Wer sich im Wir dieses Psalms nicht finden kann, hat womöglich ein Problem. Aber anfangen würde ich mit Psalm 1, denn der betrifft, wenn Sie gestatten, meinen eigenen Weg, meine Scham. Wie auch der 119te noch einmal, wenn er anhebt mit denen, "die ohne Tadel leben." Ich schäme mich, es geht mich direkt an, ich schaue in den Spiegel. Da geht es jeweils um mein ganzes Leben bis zum heutigen Tag. Ich werde geprüft – oder so gesagt: Ich lasse zu, dass mich der Psalmist in seine Selbstprüfung vor Gott einbezieht. Erst in späterer Instanz folgt hier die Begeisterung für die Form, für das Suchen nach dem passenden Wort im Rahmen dessen, was wir zur Verfügung haben: unser Alphabet.
Tück: Haben Sie selbst schon einmal die Erfahrung gemacht, die in manchen Psalmen ja dankbar gefeiert wird, dass eine Bitte, ein Gebet erhört worden ist?
Kolbe: "Aus der Tiefe."
Tück: Viele Menschen haben in Grenzsituationen keine Sprache. Sie wollen ihr Leben vor den ganz Andern bringen, aber können es nicht. Die 150 Lieder des Psalters bieten ein weites Panorama von Ausdrucksmöglichkeiten – Lobpreis und Dank, Bitte und Klage, Anklage und Fluch – alles wird vor den HERRN getragen. Könnte der Umgang mit dem Psalter auch Suchenden oder religiös Obdachlosen helfen, sprachfähiger zu werden?
Kolbe: Die Liturgie (ich rede von der evangelischen) bedient sich überwiegend und bedauerlicherweise bei den Psalmen als einem Zitatenkästlein. Die tausend Vertonungen der Tradition stehen immerhin zur Verfügung. Ich wünschte mir etwas wie eine Rückführung der Psalmen. Die Individualität der jeweiligen Sprache, des jeweiligen Gestus, der Haltung zu Mensch, Welt, Gott … müsste doch dazu taugen, wenigstens zeitweise, aber ausdrücklich Psalm um Psalm aus dem theologisch fixierten Kanon heraus zu heben. Sie dem heutigen Hallraum neu zur Verfügung zu stellen, sie einem heutigen Bedürfnis nach Poesie, das ich nur gleichauf mit dem nach Spiritualität denken kann, frei zu Ohr und Zunge zu geben.
Tück: Der Psalter ist nach Emmanuel Levinas das "Gebetbuch Israels" – die Kirche hat dieses Gebetbuch übernommen. Was halten Sie davon, dass im kirchlichen Stundengebet einige Psalmen domestiziert und anstößige Stellen getilgt wurden?
Kolbe: Das entzieht sich meiner genaueren Kenntnis, aber es ist mir unbehaglich. – Grundsätzlich verstehe ich Auswahl als notwendiges Verfahren. Wo sie nicht ausreicht, dürfen keine Zensurverfahren beginnen. Was die alten und heiligen Texte betrifft, besteht ja schon bei Neuübersetzung die Gefahr der Anpassung an heutige, sogar an tagespolitische bis hin zu sprachpolizeilichen Bedürfnissen. Dasselbe geschieht zu meinem Erschrecken mit der überlieferten Literatur in Gänze. Als leidenschaftlicher Benutzer der "Bibliothek von Babel" lehne ich derartige Verfahren ab. Übrigens auch als Diktatur-Erfahrener, der in einer Welt von Zensur, Indexierung, Lese- und Denkverboten aufgewachsen ist.
Tück: Was bedeutet es für Sie, dass Christus selbst die Psalmen gebetet hat?
Kolbe: Mich ergriff ein tiefer Schauer, als ich gewahr wurde, dass Jesus am Kreuz einen Psalm zitiert.
Tück: Der Schrei "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" ist ein Zitat aus Psalm 22, der anders endet, als er beginnt. Manche Theologen sehen hier das Geheimnis von Karfreitag und Ostern vorgespurt – können Sie einer solchen Lesart etwas abgewinnen?
Kolbe: Ohne Umstände ja, und, einmal so gesehen, selbstverständlich.
Tück: In der Literatur des 20. Jahrhunderts gibt es eindrückliche Psalmen. Bertolt Brecht, der die Bibel gelesen hat, um seinen Stil zu schulen, hat formale Anleihen bei den Psalmen genommen, um sie dann inhaltlich zu konterkarieren und zu parodieren. Anders sieht es bei Paul Celans aus. In seinem Psalm heißt es: "Gelobt seist du, Niemand." Ein Antigebet nach der Shoah. Wie stehen Sie zu diesen poetischen Verfahren der Verfremdung?
Kolbe: Brechts Blasphemien haben ja inzwischen eine gewisse Patina auf sich. Anderes nicht. Darunter, dass seine Sprache in einem starken Zweig von der Bibel, von Luthers Übersetzung des Alten Testaments herkommt, und dass er sie in eigenen Verfahren des sprachlichen Synkretismus – etwa in der Aneignung klassischer asiatischer Dichtung – innovativ zu entwickeln wusste. Auch deshalb wirkt er bis heute auf die Nachgeborenen.
Celans Wort vom ‚Niemand‘ erfüllt das Diktum von Kafka, was ein Buch in uns sein soll, Celans Wort wirkt seither als Axt.
Ich hatte bereits früher einmal über meine Sprache gesagt, sie stamme "von Weimar bei Buchenwald."
Tück: "Aschrej", so lautet das erste Wort des Psalters, das man mit "Selig", "Wohl" oder "Glücklich" übersetzen kann. Bei Celan findet sich im späten Band Fadensonnen die Wendung "Aschrej – ein Wort ohne Sinn" – wie lesen Sie das?
Kolbe: Es steht in einem der nicht wenigen, sich aggressiv steigernden Gedichte des Gedichtbuchs. Die Konnotation des Auftakt-Worts der hebräischen Psalmen wird brüsk abgewehrt. Was "Glückliches" betrifft, so stößt es auf die tief begründete Skepsis des Dichters. Celans Gedicht klingt in mancher Kombination sogar wie Gottfried Benns auflistende Geschichtsorgien ("Athene in die behelmten Ovarien gespritzt"). – Dagegen finde ich in einer anderen Zeile aus demselben Band das Ringen, den poetisch-existenziellen Kampf Celans mit den Psalmen noch einmal anders, als eine Art Oxymoron auf den Punkt gebracht: "Spasmen, ich liebe dich, Psalmen".
Tück: In Ihren "Renegatenterminen" findet sich die Äußerung, dass das deutsche Gedicht "auf dem Seil spricht, über dem Abgrund aus Worten Toter, gerade wenn es ein Liebeslied sein will". Und weiter: "Es fährt auf einem gelben Tuch, aus dem Sterne geschnitten worden sind. Es fährt auf einem bunten Flickentuch aus Dreiecken mit Nummern." Das ist ein Bekenntnis zum Eingedenken der jüdischen Leidensgeschichte, dem in Zeiten eines wieder aufflackernden Antisemitismus Bedeutung zukommt – oder?
Kolbe: Das Bekenntnis steht selbstverständlich gegen jede Öffentlichkeit, die diese besondere, ja, deutsche Verantwortung weglügen will. Von diesem Eingedenken wird einer wie ich, dessen Referenzen vom 20. Jahrhundert gebrandmarkt sind, nie absehen. Ich hatte bereits früher einmal über meine Sprache gesagt, sie stamme "von Weimar bei Buchenwald."
Tück: Wir leben in beschleunigten Lebenswelten, deren Innovationsdynamik mit nicht geringen Traditionsabbrüchen einhergeht. Botho Strauß hat vom Schriftsteller als einem "Fortführer" gesprochen. Können Sie sich in dieser Bezeichnung wiederfinden?
Kolbe: Gern würde ich meine Arbeit auch so verstehen. Die Sprache bewusst aus der Tiefe zu holen, wie Celan, wie Hölderlin, eine Grammatik zu riskieren, die mehr verlangt ihr zu folgen, als mit der Hand über den Bildschirm zu wischen. Ein Gespräch aus vielfältiger Tradition fortzuführen. Es ist ja zum Glück nie abgebrochen. Um daran teilzuhaben, musst du es nur zulassen. Mitlesend, mithörend, mitsprechend.