Jan-Heiner Tück: Wir stehen an der Schwelle zur österlichen Bußzeit. Die Kirche kennt den Ritus des Aschenkreuzes. Unser Leben steht unter dem Neigungswinkel der Kreatürlichkeit: "Bedenke, Mensch, dass du Staub bist" – was sagt Ihnen das?
Michael Triegel: Nun, das Nachdenken über die Vergänglichkeit alles Irdischen ist in meiner künstlerischen Arbeit ein wichtiges Zentrum. Zuweilen gibt es Momente, da ich wünschte, es wäre für mich weniger präsent. Und doch weiß ich auch, dass vor der dunklen Folie des Sterbenmüssens die Farben des Lebens umso heller leuchten. Die Bedrohtheit des Lebendigen macht dessen Würde, Schönheit und Wert besonders intensiv sichtbar. Gleichzeitig werden der Hybris des Menschen, Herr über die Welt zu sein, Grenzen aufgezeigt und Perspektiven über unsere hiesige Existenz heraus ahnbar. So sind meine Bilder oft genug Apotropäen, die das mich Ängstigende allein dadurch, dass sie es durch die Darstellung von Leid, Sterben und Vergänglichkeit visualisieren, zu bannen versuchen und darüber hinaus einer Sehnsucht nach Erlösung, geglücktem irdischen Leben und Hoffnung auf ein ewiges Ausdruck zu geben versuchen.
Kunst als Werkzeug
Tück: Die Erinnerung an die Kreatürlichkeit unserer Existenz steht quer zu Versuchen, das Leben um jeden Preis zu verlängern – bis hin zu "Auferstehungstechnologien" (Botho Strauß) im Trans- und Posthumanismus. Das Memento mori ist aber auch eine Provokation, sich durch Kunst einen Namen zu machen, der die Vergänglichkeit überdauert – oder?
Triegel: Sicherlich spielt der Wunsch, etwas zu hinterlassen, das mich überdauert, beim Kunstmachen durchaus eine Rolle. Und doch ist es bei Bildern wie bei Kindern – sie sollen nicht von mir als Vater künden, sondern einen Platz eigenen Rechts in der Welt finden, weniger ein Statement über mich als Person als vielmehr ein Gesprächsangebot an andere Menschen sein, sodass ich wünschte, eben als Person hinter dem Werk verschwinden zu können. Da hat sich über die Jahre für mich auch einiges verändert, sei es, dass die Eitelkeit mit dem Alter abnimmt oder dass mir zu große Aufmerksamkeit und Erwartung an mich die Ruhe und Freiheit, die ich für die Arbeit brauche, einschränken. Möglicherweise hat sich aber auch etwas durch meine späte Taufe und das christliche Bekenntnis etwas verschoben, sehe ich doch meine Kunst und mich selbst eher als ein Werkzeug, das zu gebrauchen ich anderen anheimstelle. Von wie vielen großen Künstlern des Mittelalters kennen wir nicht einmal den Namen! Selbstverständlich ist es für mich etwas Erhebendes, ein Altarbild für einen Kirchenraum zu schaffen, mich dadurch in eine Tradition einzuschreiben "und mir vorzustellen, dass das Werk vielleicht über lange Zeit wirken kann. Doch wenn die Gemeinde davor kniet, weiß ich, dass nicht ich gemeint bin. Da halten sich die Entlastung, dass es nicht um mich geht, und die Verantwortung, auf ein mich Übersteigendes zu verweisen, ungefähr die Waage.
"Mir scheint, im Orpheus-Mythos auch die Warnung thematisiert zu sein, Kunst und Leben nicht zu verwechseln, die Warnung an den Künstler, die Erscheinungen des Lebens nicht nur als Material, als Steinbruch seiner Kunst zu sehen."
Tück: Kunst hat die Macht, Verlusterfahrungen zu transformieren. Der Sänger Orpheus steht für diese Transformation. Der Schmerz um den Verlust der Eurydike lässt ihn ein inniges Lied der Liebe singen, das ihm den Zutritt zur Unterwelt verschafft. Die Kirchenväter haben in Orpheus eine Präfiguration Christi gesehen, der im Abstieg in das Reich des Todes den Verlorenen Rettung gebracht hat. Können Sie dieser Deutung etwas abgewinnen? Und wie würden Sie Ihr eigenes Schaffen mit Orpheus, diesem Prototyp der Kunst, in Verbindung bringen – im Bild "Persephone und Orpheus" (2012) gibt es ja einen entsprechenden Verweis?
Triegel: Als Präfiguration Christi kann man Orpheus nicht nur durch seinen Abstieg in den Hades sehen. Auch sein Tod mag zu Überlegungen, die Christus betreffen, anregen. Orpheus diente als Sänger dem Gott Apoll und den Musen und verweigerte dem neuen Gott Dionysos die Gefolgschaft. So wurde er vom wütenden Mob, der dem Dionysos dienenden berauschten Mänaden, zerstückelt. Irgendwie dröhnt mir da das "Kreuzige ihn!" der enthemmten Menge im Ohr. Sein Kopf aber wurde mit der Lyra in den Fluss Hebros geworfen, wo er über den Tod hinaus zu singen fortfuhr, bis ihm Apoll, wohl um die Gesetze der Natur zu wahren, zu schweigen gebot. Nicht nur das Lied oder die Kunst – vita brevis, ars longa –, sondern die Physis des Kopfes überdauern den Tod. Bäume und Tiere ließen sich durch seinen Gesang zu Tränen rühren – wie auch die gestrenge Totenrichterin Persephone. Die großen Menschheitsmythen und Göttererzählungen beschäftigen mich sehr, weil sie die Widersprüche des Lebens nicht vorschnell zu lösen, sondern Leben als Widerspruch darzustellen versuchen. So wie Orpheus zwischen dem Apollinischen und Dionysischen buchstäblich zerrissen wird, so steht auch Persephone für die Pole von Leben und Tod als nicht zu trennender Einheit – eine Hälfte des Jahres sorgt sie als Göttin der Blumen und des Wachstums für irdische Fülle, in der anderen Jahreshälfte herrscht sie als Richterin der Seelen an der Seite ihres Mannes Hades in der Unterwelt. Das Helle und das Chthonische sind eins. Natürlich ist Orpheus der Künstler par excellence, erzählt doch der Mythos von der Macht der Kunst über alle Kreatur, ja selbst über die Götter. Und doch scheint er mir auch von den Grenzen der Kunst zu sprechen. Ich frage mich, ob es tatsächlich die wiederbelebte Eurydike ist, die der Orpheus aus der Unterwelt herausführt oder nicht vielmehr nur eine imago des Künstlers, die vergeht, wenn dieser sie in der Realität, da er sich umwendet, zu betrachten, zu fassen versucht. Ist sie nicht nur seine Erinnerung, Stoff seiner Kunst, wo doch Mnemosyne – die Erinnerung – die Mutter der Musen ist? Mir scheint, im Orpheus-Mythos auch die Warnung thematisiert zu sein, Kunst und Leben nicht zu verwechseln, die Warnung an den Künstler, die Erscheinungen des Lebens nicht nur als Material, als Steinbruch seiner Kunst zu sehen. "Das war der Seelen wunderliches Bergwerk", beginnt Rilke sein Orpheus-Gedicht. Und doch liegt, wie mir scheint, gerade in jenem Blick zurück der zutiefst humane Kern dieser Sage. Die Übertretung göttlichen Gebots, Eurydike nicht anzusehen, mag man als Ungeduld, gar als Zweifel an der Zusage der Götter lesen, vielmehr noch aber als Ausdruck von Sorge und Zuneigung. Hätte Orpheus seine Gefährtin überhaupt verdient, wenn er die Geliebte nicht hätte sehen wollen? Die Wiedervereinigung beider musste an einem unlösbaren Widerspruch scheitern. Dennoch ist wohl die Macht der Liebe als Ausdruck tiefster Menschlichkeit das Zentrum der Erzählung. Die Liebe als die größere Macht als das starre Gesetz – das ist für mich Paulus, das ist christlich.
Tück: Tatsächlich hat schon Clemens von Alexandrien Christus als den "neuen Orpheus" bezeichnet, dessen Lied der Liebe und des Friedens bis an die Enden der Erde erschallen möge … Doch lenken wir den Blick auf Ihr Bild "Deus absconditus", in dem der schwarze Hintergrund ins Auge fällt. Alles, was im Vordergrund zu sehen ist, scheint gefährdet durch die dunkle Macht der Leere. Spiegelt diese gähnende Leere die epochale Erfahrung der Abwesenheit Gottes und transzendentalen Obdachlosigkeit des modernen Menschen?
Triegel: "Verschlungen von der unendlichen Weite der Räume, von denen ich nichts weiß und die von mir nichts wissen, erschaudere ich." Dieser Satz von Blaise Pascal und der Wunsch, das Schweißtuch, das der spanische Barockmaler Francisco de Zurbarán schuf, noch einmal ganz groß zu malen, waren die Kristallisationskeime für dieses Bild, das unseren verzweifelten Versuch, den horror vacui zu verdrängen, thematisiert. Das den Hintergrund des Gemäldes dominierende nihilistische Schwarz wird, damit es uns nicht von der schmalen Raumbühne ins Nichts der Dunkelheit ziehen möge, zugestellt mit Gegenständen, die aber für uns selbst kaum mehr Platz lassen und zudem allesamt tot sind. Können wir das nicht täglich an uns selbst im Alltag beobachten, da wir die Leere, der wir uns nicht stellen wollen, auszufüllen versuchen durch den Konsum von oft überflüssigen Dingen? Novalis schreibt: "Wir suchen überall das Unbedingte und finden immer nur Dinge." Da möchte ich sagen: Immerhin! Denn die Unlust, das Unbedingte überhaupt zu suchen und sich von vornherein nur auf die Suche nach Dingen zu begeben, die ja kaum mehr wirklich gefunden, sondern die uns in Überzahl aufgedrängt werden, das scheint mir das Wesensmerkmal der Gegenwart zu sein.
"Mir selbst sind Tradition und ein Ritus, der durch Generationen getragen wird, ungemein wichtig. Doch ist die Form kein Selbstzweck, sondern Trägerin eines Inhalts."
Tück: Christliche Symbole wie das verhüllte Kreuz, der Schädel des Lammes, der Abendmahlstisch ohne Gemeinde, die die Gaben von Brot und Wein empfangen könnte, aber auch die leicht gekippte Figur des Auferstandenen in einer Schachtel, die seltsam abgewandte Muttergottes wirken wie Requisiten einer Religion, die erstorben zu sein scheint. Trügt dieser Eindruck?
Triegel: Diesen Eindruck habe ich beabsichtigt. Oder vielmehr wollte ich ihn, da er mich so sehr bedrängte, von der Seele malen. Mir selbst sind Tradition und ein Ritus, der durch Generationen getragen wird, ungemein wichtig. Doch ist die Form kein Selbstzweck, sondern Trägerin eines Inhalts. Das ist in der Kunst wohl nicht anders als in der Religion. Ecclesia semper reformanda – ja, Formen dürfen, nein, müssen sich wandeln, wenn der inhaltliche Wesenskern nicht mit ihnen erstarren und sterben soll. Schlüssel zum Verständnis meines Bildes "Deus absconditus" ist der kleine schwebende Zettel unten in der Mitte. Darauf ist ein Diagramm dargestellt, mit dem die Scholastik das Geheimnis der Dreifaltigkeit zu erklären versuchte. An den drei Eckpunkten steht "Pater", "Filius" und "Spiritus". Verbunden sind die Worte jeweils mit der Aussage "non est". Im Zentrum lesen wir "Deus", und je ein "est" weist von dort auf die drei außen stehenden Worte. Vater, Sohn und Geist sind verschieden und doch sind alle Gott. Das ist so spitzfindig wie einfach und logisch. Aber haben wir durch diese Rationalisierung das Geheimnis verstanden? Ein enthülltes Geheimnis hört auf, Geheimnis zu sein – da bin ich wieder bei Novalis. Das gemalte Blatt Papier verstellt uns den Blick auf die blutenden Wunden an den Füßen, das übergroße leere Tuch verhüllt den leidenden Erlöser am Kreuz. Und doch ist das nicht Dargestellte im Bild ja präsent und provoziert vielleicht den Drang, hinter den Zettel zu blicken, das Tuch an den aus dem Bild führenden Stricken wegzuziehen, um IHN in seinem für uns getragenen Leiden zu sehen.
Tod und Leben
Tück: Der "Deus absconditus" verweist auf den "Deus revelatus", der in der Passion alles gegeben hat. In ihrem Bild "Kreuzesabnahme" haben sie den toten Christus gemalt – und auch hier gibt es eine Spannungseinheit, wenn Tod und Leben eine eigentümliche Verbindung eingehen. Anders als Hans Holbein, der mit anatomischer Präzision das Totsein des Toten so stark ins Bild gesetzt hat, dass Dostojewski bei seinem Besuch des Museums in Basel davon zutiefst erschüttert war, wirkt in Ihrem Bild die kraftvolle Inszenierung des Körpers Christi so, als trage der Gekreuzigte bereits den Keim des neuen Lebens in sich. Ist die Kreuzesabnahme ein Osterbild?
Triegel: Ja, das ist es. Dostojewski meinte, dass man durch Holbeins Gemälde des toten Christus im Grabe am Glauben an die Auferstehung irre werden müsse. Aber im selben Roman, Der Idiot, wird dem Gottesnarren Fürst Myschkin auch der Satz in den Mund gelegt, nur die Schönheit könne die Welt retten. – Die Gottesdienste von Gründonnerstag bis Ostersonntag werden ja, soweit ich das verstehe, als ein Kontinuum, als nicht zwischenzeitlich abgeschlossene, somit als eine einzige Messe verstanden. Als armes Heidenkind, das ich einst gewesen bin, war der Karfreitag stets der Höhepunkt des Jahres für mich. In diesem Tag fand ich meine Todessehnsucht und allen Weltschmerz gespiegelt. Es war beinahe ein Ritual, jährlich in der Passionszeit ein Karfreitagsbild oder ein Memento mori zu malen. Die Erzählungen des Ostersonntags verstand ich eher als ein Ammenmärchen für diejenigen, die die Wucht des endgültigen Todes nicht ertrügen. Und am Karsamstag war mir einfach nur langweilig. Irgendwann jedoch wurde mir gerade dieser Tag immer wichtiger, jener Tag der Ruhe, an dem noch nichts entschieden ist, nicht der finale Tod und noch nicht die Auferstehung. Es ist ein Bild der Einsamkeit, das ich mit der "Grablegung" gemalt habe, denn selbst diejenigen, die Jesus betrauern und begraben sollten, sind nur noch als Silhouetten zusammengenagelter Holzbretter zu ahnen. Sind wir diese erstarrten Toten, die doch eigentlich lebendig sein sollten? Wohingegen der Leib des Gestorbenen in seiner die Welt rettenden Schönheit buchstäblich in Schwebe gehalten wird zwischen Tod und Leben und somit die Auferstehungshoffnung zumindest nicht mehr völlig auszuschließen ist. Den "Deus absconditus" malte ich 2013/14 zur Zeit meiner Taufvorbereitungen wohl in der Sehnsucht danach, dass das mir Verborgene sich enthüllen möge. Mit der "Grablegung" leuchtete mir aber 2008 zuerst die Hoffnung auf, dass nach dem Karfreitag nicht Schluss sein könnte. Es klingt hoffentlich nicht zu pathetisch, wenn ich sage, dass mein Weg zum Glauben als ein durchweg österlicher verstanden werden kann und dieser sich an meiner Arbeit, ohne dass es mir damals bewusst war, ablesen lässt.
Tück: Dieser österliche Hintergrund tritt auch in Nietzsches Grablied hervor, in dem sich die Zeile findet: "Und wo Gräber sind, gibt es Auferstehungen". Dieser Satz ist Ihnen wichtig geworden – inwiefern?
Triegel: Der Pastorensohn Friedrich Nietzsche wurde in seiner Schulzeit als "kleiner Pfarrer" gehänselt. Ich verstehe sein Werk so, dass er das Christentum zutiefst verinnerlicht hatte, er hat es dann nicht einfach abgetan, sondern sich ein Leben lang daran abgearbeitet, mit ihm gerungen. Sein berühmter Satz vom Tod Gottes impliziert für mich, dass Nietzsche Gott nicht nur als ein Märchen verstanden hat. Nur lebendig Existierendes kann auch sterben. Nietzsches toller Mensch triumphiert nicht über den Tod Gottes. Wir hören einen verzweifelten Ruf, der prophetisch aufs 20. Jahrhundert und unsere Gegenwart vorausweist: "Wir haben ihn getötet, – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! ... Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unseren Messern verblutet." Ich sehe in Friedrich Nietzsche, bestimmt laienhaft verkürzt, den Prototypen des zerrissenen modernen Menschen. Bevor im frühen 20. Jahrhundert sein Übermensch so unheilvoll und falsch verstanden zur "blonden Bestie" mutierte, wirft sich der Philosoph 1889 in Turin an den Hals eines geschlagenen Maultiers. Überwältigt vom Mitleid mit der geschundenen Kreatur verfällt er der geistigen Umnachtung. Ich möchte das so verstehen, dass die Aussage des tollen Menschen in der "Fröhlichen Wissenschaft" nur in die Dunkelheit führen kann: "… auch Götter verwesen! Gott ist tot! Gott bleibt tot!" Für mich wäre diese Vorstellung nicht auszuhalten. Deshalb ist mir der Satz im "Grablied" des Epochenwerkes "Also sprach Zarathustra" so wichtig, weil der Tod nicht das letzte Wort behält und wir diesen vielmehr als Voraussetzung und Übergang zu Auferstehung und ewigem Leben verstehen können. Deshalb sollten auch Christen und Kirche nicht über die Gottlosigkeit unserer Zeit lamentieren und davon erzählen, was alles gestorben ist, sich gar am Toten festhalten, sondern kraftvoll vorleben, dass Auferstehung möglich ist. Es spricht beinahe für eine wunderbare Poesie des genius loci, dass Friedrich Nietzsche ebenso in Schulpforta zur Schule ging wie Friedrich Gottlieb Klopstock, der schrieb: "Aufersteh‘n, ja aufersteh‘n wirst du, / mein Staub, nach kurzer Ruh! / Unsterblich Leben! Unsterblich Leben / wird, der dich rief, dir geben!"