Francis Poulenc war in jungen Jahren ein begnadeter Pianist und ein talentierter Komponist. Mit seinem Freund Pierre Bernac, Bariton, unternahm er große und erfolgreiche Konzertreisen. Aus großbürgerlicher Familie in Lyon stammend, verkehrte er in den intellektuellen Kreisen des Pariser Quartier Latin wie ein Fisch im Wasser. Mit Georges Auric, Louis Durey, Arthur Honegger, Darius Milhaud und Germaine Teilleferre bildete "Le Groupe des Six", ein Leitstern der damaligen intellektuellen und musikalischen Szene der französischen Hauptstadt.
Kompositionstechnisch dem Neoklassizismus verpflichtet und an der Musik Igor Stravinskiys orientiert, legte er ‒ der Zeit einer modal gefärbten Musik gemäß ‒ einen Akzent auf die Harmonie. Die Melodie ist seine kompositorische Richtschnur. "Ich liebe es, wenn man mich als Musiker der Dichter betrachtet", betont der junge Musiker, Gedichte seiner Freunde Paul Eluard und Max Jacob vertonte er in kongenialer Weise.
Poulencs Bekehrung in Rocamadour
Die Années folles vor dem Zweiten Weltkrieg bildeten für Poulenc in mehrfacher Hinsicht eine Zäsur. Der wirtschaftliche Crash im Vorkriegsfrankreich ging an Poulenc nicht spurlos vorüber. Der Todesfall einer Musikerfreundin, Raymonde, 1929 und der unverhoffte Tod eines fast gleichaltrigen Freundes ‒ der Komponist Pierre-Octave Ferroud starb 1930 in Salzburg bei einem Verkehrsunfall‒, stürzten Francis Poulenc in eine tiefe Depression.
Vom Elternhaus katholisch sozialisiert, in jungen Jahren dem Glauben jedoch indifferent gegenüberstehend, unternahm er – auf Anraten seines Vaters – eine Wallfahrt zur Vièrge noire von Rocamadour. Das erste geistliche Werk, das er später komponierte, steht in Verbindung zu diesem Ort: "Les Litanies à la Vierge noire". Seine Werke "Stabat Mater", "Figure humaine" und die Oper "Les Dialogues des carmélites" widmet er Unserer Lieben Frau von Rocamadour.
Es wohnen zwei Herzen in seiner Brust: hier der Vertreter der intellektuellen Szene von Paris, da der einfach Glaubende.
Seit dieser Zeit unterscheidet Poulenc ein "Davor" und ein "Danach". Es wohnen zwei Herzen in seiner Brust: hier der Vertreter der intellektuellen Szene von Paris, da der einfach Glaubende. In einem Gespräch, das Claude Rostand mit Francis Poulenc führte, wird dieser Grundzug umschrieben als "Der Mönch und der Schurke" ("Le moine et le voyou").
Für Poulenc bedarf die Religion eines ästhetischen Zugangs, der Quelle der Freude ist: Ein Gott, der die Welt liebt. Intellektuelle Priester sind ihm ein Graus, er lebt eine direkte und familiäre Frömmigkeit. "J’aime l’austérité qui sent la fleur d’oranger et le jasmin" ("Ich mag die Strenge, die nach Orangenblüte und Jasmin duftet").
Mit der Komposition "Quatres motets pour un temps de pénitence" ("Vier Motetten für eine Zeit der Buße") verarbeitet er 1936 musikalisch und geistlich die beiden Todesfälle. Nach einem Konzert von Milhaud, es wurden die Stücke "Cantates de la Paix" und "Deux Cités" aufgeführt, fasst Poulenc den Entschluss zu dieser Komposition. Poulenc widmet die vier Motetten befreundeten Chorleitern und Chorleiterinnen (Abbé Fernand Maillet die erste, Yvonne Gouverné die zweite, Nadja Boulanger die dritte und Ernest Bourmauck die vierte Motette).
Die erste Motette kombiniert Verse aus Psalm 30 und Psalm 54. Poulenc hat diesen Text wohl aus einer Motette von Orlando di Lasso übernommen. Der zweiten liegt der Text eines Responsoriums (Antwortgesang) der Matutin (Nachtgebet) vom Karfreitag zugrunde. Die dritte vertont den Text eines Responsoriums der Matutin vom Karsamstag und vierte eines Responsoriums der Matutin des Gründonnerstags.
Poulenc musikalisiert existenzielle Grundbefindlichkeiten des Lebens.
Gleichwohl handelt es sich nicht um liturgische Musik, sondern eher um spirituelle Konzerte. So wird in der ersten Motette die Angst Christi vor der Passion thematisiert, in der zweiten die Enttäuschung Christi, dass an seiner Stelle Barrabas begnadigt wird, in der dritten die Einsamkeit am Kreuz, bevor Christus sein erlösendes "Es ist vollbracht", ausstoßen kann, und in der vierten die Agonie der Ölbergszene und die Enttäuschung über seine Jünger, die ihn in dieser Stunde verlassen.
Francis Poulenc bereichert die biblischen Szenen der Passion mit Elementen der Volksfrömmigkeit und musikalisiert existenzielle Grundbefindlichkeiten des Lebens (Unruhe und Angst, Revolte, Auflehnung, Einwilligung, …). Als Vorbilder dieser vier Stücke nennt Poulenc zum einen Motetten von Tomas Luis de Vittoria, dem er eine große Wertschätzung entgegenbringt. Zum anderen regen ihn die realistisch und tragisch gestimmten Passionsbilder des florentinischen Malers Mantegna an.
Die Kompositionstechnik der vier Motetten zeigt Francis Poulenc als Neoklassizist, er bezieht sich auf traditionelle Vorgaben (Motette als Gattung einer Choralbearbeitung, Textbetonung des liturgischen Gesangs, Anklänge an Gregorianik, a capella, …), die jedoch verändert werden (Mehrstimmigkeit, Harmonik statt Kontrapunkt, gewollte Dissonanzen). Dieser Mix gibt seinem Stil eine eigene Kombination von Strenge und Sanftheit.
Timor et tremor
Timor et tremor venerunt super me,
et caligo cecidit super me:
miserere mei Domine, miserere mei,
quoniam in te confidit anima mea.
Exaudi Deus deprecationem meam
quia refugium meum es
tu adjutor fortis.
Domine, invocavi te, non confundar.
Furcht und Zittern sind über mich gekommen
und Finsternis hereingebrochen über mich:
Erbarm Dich meiner, Herr, erbarme Dich,
da meine Seele ganz auf Dich vertraut.
Gott erhöre mein Gebet,
denn Du bist meine Zuflucht
und mein starker Beistand.
Herr, ich habe Dich gerufen, auf dass ich nicht verloren gehe.
Die erste Motette beginnt mit einem ausführlichen Text, dem die Musik in aller Transparenz folgt ("getragen"). Wort und Musik sind in einem Tempo gesetzt, während sich die Tonart zu a-Moll verändert und in einer brillanten Schlusskadenz auflöst. Einen beeindruckenden Dynamikwechsel setzt Poulenc bei dem Wort caligo (Dunkelheit), der chromatische Abstieg der Sopranstimme klingt verwirrt, wird jedoch am Ende durch eine schlichte Kadenz gemildert.
Vinea mea
Vinea mea electa, ego te plantavi:
quomodo conversa es in amaritudinem,
ut me crucifigeres et Barrabam dimitteres.
Sepivi te, et lapides elegi ex te,
et ædificavi turrim.
Mein erwählter Weinberg, ich habe dich gepflanzt:
Wie hast du dich in Bitterkeit gewandelt
und mich gekreuzigt und Barrabas entlassen.
Ich habe dich gehegt und deine Steine ausgelesen
und einen Turm gebaut zu deinem Schutz.
(vgl. Jes 5,1-4; Jer 2,21).
Die zweite Motette beginnt mit einem gegensätzlichen Verlauf (lento teneramente e con melancolia – "langsam, zärtlich und melancholisch"). In drei Wellenbewegungen wird ein unruhiger und heftiger Schrei thematisiert (in fast klassischer Abfolge a b a). Diese Motette ist von einem starken Kontrast geprägt. Zum einen beginnen die Worte Vinea mea electa mit einem ruhigen Legato (in Wiederholung als excessivement doux – "übermäßig süß" betont), zum anderen wird eine störende Dissonanz beim Wort crucifigeres und der zweimaligen Nennung des Namens Barrabas gesetzt. Zum Schluss ertönt ein harter, ironisch wirkender Durakkord. Das Finale der zweiten Motette (le double plus lent du tempo cédé – "doppelt so langsam wie angegeben") klingt wie ein Psalmgesang in unendlicher Ruhe aus.
Tenebrae factae sunt
Tenebrae factae sunt, dum crucifixissent Jesum Judaei:
et circa horam nonam exclamavit Jesus voce magna:
Deus meus, ut quid me dereliquisti?
Et inclinato capite, emisit spiritum.
Exclamans Jesus voce magna, ait:
Pater, in manus tuas commendo spiritum meum.
Finsternis kam über das Land, als die Juden Jesus kreuzigten,
und gegen die neunte Stunde schrie Jesus laut auf:
"Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?"
Und er neigte sein Haupt und gab seinen Geist auf.
Jesus rief mit lauter Stimme:
"Vater, in Deine Hände empfehle ich meinen Geist."
(vgl. Ps 21, 2; 30,6, Mt 27,45-46.50, Mk 15,33-34.37, Lk 23,44.46, Joh 19,30).
Spannungsreicher Bezug zwischen Text und Dynamik zeichnet die beiden letzten Motetten aus. Inclinato capite hat eine strenge, fast kantig wirkende Linie. Die Dynamik des Textes exclamavit des sterbenden Jesu wird fortissimo subito – "plötzlich sehr laut" als Chromatik gehalten. Das "Ait" (piano subito – "plötzlich leise") steigt in Akkorden ab, wobei Sopran und Bass ausgeschlossen werden. Die dritte Motette wird modifiziert in seinem Werk "Sept Répons des Ténèbres" (1961) aufgenommen.
Tristis est anima mea
Tristis est anima mea usque ad mortem:
sustinete hic, et vigilate mecum:
nunc videbitis turbam, quæ circumdabit me:
Vos fugam capietis, et ego vadam immolari pro vobis.
Ecce appropinquat hora, et Filius hominis
tradetur in manus peccatorum.
Meine Seele ist traurig bis zum Tode:
Haltet hier stand und wacht mit mir:
Nun werdet ihr eine Menge sehen, die mich umgibt.
Ihr werdet die Flucht ergreifen, und ich werde gehen, mich für euch zu opfern.
Die Stunde rückt heran, und der Menschensohn
wird in die Hände der Sünder ausgeliefert werden.
(vgl. Mt 26,38.45; Mk 14,34.41)
Sind die ersten drei Motetten als Chorsatz komponiert, der fast ohne Solostimmen auskommt, kommt in der letzten dem Solosopran eine interpretative Rolle zu, die die Niedergeschlagenheit und Einsamkeit Jesu am Ölberg musikalisiert. Die vierte Motette beschließt den Zyklus in einem tiefen Schmerz. Alles wirkt und tönt unruhig und zerbrechlich. Der Solosopran fasst die Unruhe und Sorge stimmlich zusammen. Der letzte Vers nimmt das Dialogische eines liturgischen Gesangs auf, wenn es heißt: "Ihr werdet die Flucht ergreifen", und: "Ich werde für euch geopfert werden". Chor und Solosopran finden sich in einem Orgelpunkt auf G zusammen Das Finale tönt wie eine klagende Litanei.
Eine unendliche Melancholie vermischt sich mit einem Gefühl der Einwilligung
Am Ende der vier Motetten scheint das Drama der Passion verklungen, eine unendliche Melancholie vermischt sich mit einem Gefühl der Einwilligung, vielleicht sogar einer Akzeptanz des Geschehens. Das Werk zeugt von einer einfachen Frömmigkeit des Komponisten, dem ein "Köhlerglaube" mehr sagt als ein theologisch reflektiertes Narrativ der Passion.
Zwischen Leichtigkeit und Tiefe
In seinen autobiografischen Aufzeichnungen "J'écris ce qui me chante" erzählt Francis Poulenc von einem Brief, den er von einer Frau aus Kamtchatka erhalten hatte, die nach seiner Person fragte: "Wer sind Sie?" Als Antwort, schreibt der Komponist, habe er zwei seiner Kompositionen zurückgesandt: Zum einen "Le Bal masqué" ("Der Maskenball") und zum anderen "Quatre motets pour un temps de pénitence" und als Bemerkung hinzugeschrieben, er glaube, dass sie so imstande sei, sich eine exakte Idee seiner Personalität zu machen, nämlich die Idee eines Poulenc-Janus.
Francis Poulenc; ein Musiker, der ein Gleichgewicht zwischen Leichtigkeit und Tiefe suchte, um in seinem Leben Weltliches und Geistliches zu einem Kompromiss zu bringen. Jean Cocteau schrieb zu dieser Einstellung seines Freundes folgende Zeilen:
Poulenc nimmt der Anmut der Bewegung das Unschuldige.
Und dann die himmlische Gnade.
Was kann man Besseres tun?