"Gegen Geister kann ich nicht kämpfen"Nora Gomringer im Interview über ein Problem, das sie verstummen lässt

Die Dichterin Nora Gomringer im COMMUNIO-Interview über die neue Sprachempfindlichkeit, den Zauber der Liturgie und den Synodalen Weg der katholischen Kirche in Deutschland.

Nora Gomringer
© Judith Kinitz

Benjamin Leven: Sie haben auf Facebook geschrieben: Ich mag Weihnachten nicht. Warum nicht?

Nora Gomringer: Weihnachten war das Fest meiner Mutter. Als sie starb, ist der Grundstein unserer Familie weggebrochen und damit ist das ganze Gebäude kollabiert. Das betraf auch unsere Hausreligiosität: die feiertäglichen Regularien, bestimmte Gefühle, die um die Festtage herum kultiviert wurden, die Traditionen und Mistraditionen. Das war alles in einer Person gebunden, die nun weg ist. Darum ist da nichts mehr. Es sei denn, man würde es selbst herstellen. Aber ich merke, dass mir das nicht gelingt, jedenfalls seit drei Jahren nicht. Es ist eine schwierige Zeit. Von Anfang Dezember bis Ende Januar sind wir ein trauernder Haushalt.

Leven: Gibt es ein anderes Fest, das ihnen besser gelingt?

Gomringer: Ich mag meinen Geburtstag. An meinem Geburtstag habe ich ein gehobenes, frohes Gefühl. An diesem Tag tue ich zwei Dinge: Ich gehe zum Zahnarzt und ich arbeite. Mein Vater…

Leven: …der Dichter Eugen Gomringer…

Gomringer: …mein Vater hat immer gesagt: An Geburtstagen muss man sehr viel arbeiten. Man darf sich auf keinen Fall Zeit nehmen für Feierlichkeiten und Freunde. So habe ich das auch immer empfunden. An meinem Geburtstag bin ich hochgestimmt und kann sehr gut arbeiten. Aber ich gehe sicherlich auch ein Stück Kuchen essen.

Die große Wörterwende

Leven: Sie haben vor einiger Zeit den Gedichtband "Gottesanbieterin" veröffentlicht. Darin finden sich Gedichte über Gott, Glaube, und Religion. Kann man das denn, so ohne Weiteres über Gott sprechen?

Gomringer: Ja. Aber ich weiß natürlich: Sobald ich Gott erwähne, habe ich in bestimmten Kreisen die ultimative Provokation genannt. Für mache ist es fast schon ein Grund, das Gespräch abzubrechen. Die Leute denken: Wie kann denn jemand, der aufgeklärt und weiblich ist, so ein offensichtlich männlich geprägtes Bild einer Gottheit aufrufen – und so weiter… Es ist aber auch bei anderen Wörtern so, dass es zu höchst empfindlichen Reaktionen kommt, etwa bei dem Wort Krankenschwester. Wir befinden uns in einer großen Wörterwende. Die Sprache erscheint als Gangster, der mit allerhand Waffen die Leute anschießen und verwunden kann.

"Je nach ideologisch-politischer Stoßrichtung wird alles so perforiert, dass es sich abtrennt von jeder noch fassbaren, objektiven Beschreibung der Realität."

Leven:Wie beeinflusst das Ihre Arbeit?

Gomringer: Das macht mich geradezu stumm. Ich muss viel mehr darüber nachdenken, wie ich schreiben will und an wen ich mich richte. Das klingt jetzt so, als hätte mein gesamtes Vokabular bisher aus Buzzwords bestanden. Das ist gar nicht so. Aber ich lausche bei vielen Diskursen und denke: Jedes Wort kann dir im Mund zerbrechen! Oder es kann so angeklagt werden, dass es dir von der Wand gewischt wird.

Leven:Sie spielen auf die Diskussion um das Gedicht "Avenidas" Ihres Vaters im Jahr 2018 an. Damals hatte die Berliner Alice-Salomon-Hochschule die erst 2011 angebrachten Zeilen überpinseln lassen, weil Studierendenvertreter sie für sexistisch hielten.

Gomringer: Diese Diskussion hat mich sehr geprägt. Mein Vertrauen in den Common Sense ist damals erschüttert worden. Je nach ideologisch-politischer Stoßrichtung wird alles so perforiert, dass es sich abtrennt von jeder noch fassbaren, objektiven Beschreibung der Realität. Du denkst: Was bin ich, was soll ich sein? Ihr formuliert eine Anklage, die gar nicht darauf basiert, was ihr lest, sondern darauf, was ihr annehmt, was dahintersteckt. Gegen Geister kann ich nicht kämpfen! Da fühlte ich mich stellvertretend für meinen Vater sehr, sehr angegriffen. Das hat mich mürbe gemacht und mich sehr entfernt von meiner Schriftstellergemeinschaft.

Leven:Man kann also nicht mehr so unbefangen vor sich hindichten, wie man das früher konnte?

Gomringer: Ich habe ja selbst inzwischen all diese Stimmen im Kopf. Vor einiger Zeit kam die Frage auf, ob bei einer Neuauflage eines Buches von mir das Wort Indianer wieder gedruckt werden sollte. Es ging darum, wie eine krebskranke Frau im Delirium beschreiben soll, wen sie da vor sich sieht. Da kamen Alternativvorschläge wie: der Mann mit den Federn. Oder: der Sioux. Das fand ich alles bizarr. Vielleicht ist es auch nur eine Gewohnheitssache. Aber wahrscheinlich kommt es an dieser Stelle zu einem Bruch. Ich kann fast nur noch mit denjenigen mitgehen, die mit mir älter werden. Die Jüngeren, die mit mir kommunizieren wollen, müssen aus sich sehr viel Toleranz herausholen, um der Sprache dieser alten Frau zu folgen. Manchem können sie auch gar nicht folgen. Wenn ich von einem Weidenkörbchen schreibe, das auf dem Fluss schwimmt, wissen sie nicht, dass es um Mose geht. Sie haben keine Ahnung, wer das sein soll.

Die Suche nach der Lebensformel

Leven: In einem Ihrer Gedichte schreiben Sie: "Ich bin die Christin, die verzückt bei der Wandlung klatscht, weil die Show so täuschend, perfekt". Ist die Messe eine Täuschung?

Gomringer: Das ist schon alles täuschend echt. Ich bin durchaus auf Zauber aus und brauche diese Täuschung. Wir täuschen uns ja herrlich. Die ganze Zeit schaut man mürrisch vor sich hin und dann kommt der Friedensgruß. Man überlegt: Erst nach links, erst nach rechts, oder erst die Frau da vorne? Ach, das ist großartig! Ein minimaler Augenblick des Überlegens: Wie schafft man es, aufeinander zuzugehen? Das ist für mich ein Moment of Comic Relief. Ein Gottesdienst ist eine Feier. Und bei jeder Feier gibt es diesen Punkt, an dem man realisiert: Was machen wir hier eigentlich? Man distanziert sich damit nicht komplett von dem Geschehen, sondern hat ein Moment der Selbstreflexion: Ja, so sind wir. Wir stehen hier und wollen miteinander feiern.

Leven:Sie sagen im selben Gedicht: "Ich bin die Christin, die durch die Riten die Rätsel annimmt".

Gomringer: Die Riten sind das Vehikel und bieten die Sicherheit. Ich bin in Kenia in die Kirche gegangen und war mir sicher: So anders wie in Bamberg wird‘s schon nicht sein, ich werde schon verstehen, was passiert. Der Ritus gibt Sicherheit und schenkt eine große Klarheit. Ich bin oft auf der sehnsüchtigen Suche nach einer Lebensformel, die tröstet und immer wieder beschwingt. Das finde ich in den Riten sehr. Das "Lasset uns beten" ist so ein tiefer Aufruf – das ist schon beeindruckend, dass dann eine ganze Gemeinde aufsteht und sich fokussiert.

Leven:Welche Rolle spielt der Gesang für Sie?

Gomringer: Immer wieder mache ich Fotos von den Seiten des Gesangbuches, weil ich erstaunt bin, wie wunderbar die Gottesdienste zusammengestellt sind und ich denke: das ist doch ein tolles Lied, großartige Zeile, klick! Foto gemacht: Und dann teile ich die auch gleich bei Facebook. Ich bin ja von lauter Menschen umgeben, die Kirche sowieso idiotisch finden und es gar nicht verstehen können, dass jemand wie ich in der Kirche ist. Ich denke mir dann immer: Ihr verkennt vollkommen, wofür ich stehe und wie ich mich fühle und was für einen Trost ich brauche. Ich habe erst spät verstanden, wie trefflich bestimmte Lieder in die Dramaturgie der Liturgie hineingedacht werden. Je älter ich werde, desto mehr merke ich: Die Rechnung geht auf. Es erreicht mich. Manches, was da gesungen wird, rührt mich geradezu zu Tränen. Ich habe das früher nicht ernst genommen, vor allem weil wir in vielen Kirchengemeinden so hilflos singen. So habe ich erst spät begriffen, wie wichtig der Gesang in der Kirche ist.

Leven:Dann gibt es da noch die Predigt. Was möchten Sie da nicht zu hören bekommen?

Gomringer: Die meisten würden wahrscheinlich antworten, dass sie nicht ermahnt werden wollen. Ich will auch nicht gerne ermahnt werden. Aber man muss doch ab und zu an die Standards erinnert werden. Vielleicht geschieht das viel zu wenig, die Prediger sind in die Defensive geraten und nehmen den Fuß vom Gaspedal. Es gibt ja immer zwei Arten, wie Leute reagieren können. Entweder sagen sie: Schade, es wäre gut, wenn da mehr Feuer wäre. Oder es heißt: Das lasse ich mir als aufgeklärter Mensch doch nicht sagen!

"Ich hatte das ehrliche Gefühl, dass man sich dort eine Jahrtausendarbeit vorgenommen hatte, dass verzweifelt versucht wurde, eine uralte Tradition in das Jetzt zu hieven."

Leven:Sie waren für einige Zeit beim Synodalen Weg der katholischen Kirche in Deutschland dabei. Wie haben Sie die Gespräche dort erlebt?

Gomringer: Ich war voller Hochachtung und beeindruckt davon, wie offen geredet wurde. Ich bin in keine Arbeitsgruppe gekommen und habe darum später nur nachgelesen, was dort erarbeitet wurde. Das Ringen mit der Sache hat mich sehr beeindruckt. Ich hatte das ehrliche Gefühl, dass man sich dort eine Jahrtausendarbeit vorgenommen hatte, dass verzweifelt versucht wurde, eine uralte Tradition in das Jetzt zu hieven. Ein sehr anstrengender Prozess. Als dann Papst Franziskus sehr früh zu erkennen gegeben hat, dass er dem Vorhaben distanziert gegenübersteht, war überall Ernüchterung zu spüren. Dann starb meine Mutter und mein Leben zerfiel. Ich musste mich in die häusliche Pflege meines Vaters einarbeiten und konnte nicht länger teilnehmen.

Leven: Beim Synodalen Weg ging es darum, Dinge zu verändern. Was sollte auf jeden Fall so bleiben, wie es ist?

Gomringer: Es sollte nie ein Absehen davon geben, den Gottesdienst zu feiern. Die Einladung an jeden Menschen, teilnehmen zu dürfen, muss immer gelten. Jeder muss fühlen: Ich darf teilnehmen, diese Tür ist offen, egal wie alt ich bin, welche Orientierung ich habe oder was auch immer. Ich bin als Leiterin des Künstlerhauses Villa Concordia in Bamberg selbst Veranstalterin. Die Sorge des Veranstalters ist immer, dass keiner kommt und dass man die Leute nicht halten und weiter faszinieren kann. Ich habe dafür auch nur ein bestimmtes Instrumentarium. Das wichtigste Instrument, der größte Einfluss, den ich habe, ist, dass ich die Menschen einzeln an der Tür begrüße. Das mache ich, seit ich hier angefangen habe. Alle Leute werden per Handschlag begrüßt. Das bindet die Menschen. Sie fühlen sich gesehen und mitgenommen. Und dann habe ich eine eingeschaltete Crowd da sitzen. Auch im Gottesdienst müssen die Menschen das Gefühl haben, dass sie gesehen und angesprochen sind, mit all ihren harten täglichen Kämpfen. Was könnte uns Besseres passieren, als dass wir so eine Einladung hätten?

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