Im Jahr 1940 geriet der französische Komponist Olivier Messiaen in deutsche Kriegsgefangenschaft. Man brachte ihn ins "Stammlager VIII A" im Görlitzer Stadtteil Moys. Bei seinem Eintreffen musste er sich einer Leibesvisitation unterziehen. Zum Vorschein kamen die bescheidenen Schätze eines tiefgläubigen Künstlers: ein Missale Romanum, einen kleinen Band, der die Psalmen, die Evangelien, die neutestamentliche Briefliteratur, die Johannes-Apokalypse und die Imitatio Christi des Thomas von Kempen enthielt, außerdem eine Reihe von Taschenpartituren hochgeschätzter Werke, von Bachs Brandenburgischen Konzerten bis zu Alban Bergs Lyrischer Suite. In einem Interview mit der Zeitung "Die Welt" erinnerte sich Messiaen später: "Splitternackt stand ich da, mit meiner kleinen Tasche für die Noten. Ein Soldat mit Maschinengewehr wollte sie mir wegnehmen, doch ich schaute ihn so finster an, dass er Angst bekam. So nackt ich war, war ich doch stärker und behielt meine Musik."
Im Lager geschah ein kleines Wunder
Mehr noch: Ein deutscher Offizier besorgte Notenpapier und erwirkte für Messiaen die Erlaubnis, sich in der Priesterbaracke des Lagers einen Platz zum Komponieren einzurichten. In den folgenden Wochen geschah hier ein kleines Wunder. Mitten im Krieg, mitten in einem Land, in dem jüdische Künstler sich entweder auf der Flucht befanden oder in Konzentrationslager verschleppt wurden, durfte Olivier Messiaen in einer geschützten Nische ein Werk komponieren, das den Machthabern dieses Landes als "entartet" gelten musste und das später zu einem der berühmtesten Kammermusikwerke des 20. Jahrhunderts werden sollte.
Die "Farben der Apokalypse" waren das Ergebnis intensiver Bibellektüre und großer Entbehrung. Der Nahrungsmangel löste bei Messiaen farbige Träume aus.
Er lernt im Lager Priester kennen und hält vor ihnen einen Vortrag über die "Farben der Apokalypse". "Und diese Farbigkeit, von der ich sprach, ist dann in meine Musik eingegangen." Es entstand das Quatuor pour la fin du temps (Quartett für das Ende der Zeit), Klangbilder, die von Texten der "Offenbarung des Johannes" inspiriert sind, eingerichtet für eine ungewöhnliche Besetzung: Klavier, Violine, Violoncello und Klarinette. Diese Instrumentierung verdankte sich freilich weniger einem originellen künstlerischen Einfall, als vielmehr dem Zufall, dass sich unter seinen Mitgefangenen ein Cellist, ein Klarinettist und ein Geiger befanden. Messiaen selbst übernahm den Klavierpart.
Die "Farben der Apokalypse" waren das Ergebnis intensiver Bibellektüre und großer Entbehrung. Der Nahrungsmangel löste bei Messiaen farbige Träume aus: "Ich sah den Regenbogen des Engels und ein seltsames Kreisen von Farben." Hungerträume erschlossen ihm die Stelle der "Offenbarung" (10,1-7), die er später als Motto seinem Werk voranstellt. Wie der Seher von Patmos erblickte er einen gewaltigen Engel, der aus dem Himmel herabsteigt: "Er war von einer Wolke verhüllt, und der Regenbogen stand über seinem Haupt ... Er schwor bei dem, der in alle Ewigkeit lebt ...: Hinfort wird keine Zeit mehr sein, denn in den Tagen, wenn der siebente Engel seine Stimme erhebt und seine Posaune bläst, wird auch das Geheimnis Gottes vollendet sein."
Vom Schrecken des Endes zur Hoffnung auf Rettung
Die Komposition besteht aus acht Sätzen. Messiaen schreibt dazu: "Sieben ist die Zahl der Vollendung – die sechs Schöpfungstage, geheiligt durch den göttlichen Sabbat. Die Sieben dieses Ruhetages setzt sich in Ewigkeit fort und wird so die Acht des unauslöschlichen Lichtes und immerwährenden Friedens." Die Acht als Zahl der erfüllten Fülle, als Spanne zwischen zwei Sonntagen, als Symbol eines ewig währenden Sonntags.
Messiaens Werk atmet den Schrecken des Endes (der sechste Satz heißt: "Tanz des Zorns") und zugleich die visionäre Hoffnung auf Rettung. Die Sätze 5 und 8 sind mit "Louange" (Lobgesang) überschrieben, klangliche Inbilder eines Friedens, der nicht von dieser Welt ist. Die Zeit scheint aufgehoben, und dies ausgerechnet im Medium einer Kunst, die wie keine andere an die Zeit gebunden ist, ja deren Eigenheit nach den Worten des Komponisten Hans Zender darin besteht, einen Anfang und ein Ende zu haben, Zeit zu ordnen und zu gliedern, also Zeit-Kunst zu sein.
Musizieren wird bei Messiaen geradezu zu einer sakramentalen Handlung, die Musik selbst zu einer Ikone aus Klang.
Messiaen war jedoch überzeugt, dass die Musik als die immateriellste aller Künste der Religion am nächsten steht. Auf die Frage angesprochen, was er mit seinen Werken vermitteln und ausdrücken möchte, kam er in einem Interview zuerst auf seinen Glauben und seine Konfession zu sprechen: "Ich habe das Glück, Katholik zu sein; ich bin gläubig zur Welt gekommen, und es hat sich ergeben, dass die heiligen Texte mich seit meiner Kindheit beeindruckt haben. Und so ist eine Reihe meiner Werke dazu bestimmt, theologische Wahrheiten des katholischen Glaubens ins Licht zu rücken. Es handelt sich hier um den wichtigsten Aspekt meines Werkes ..."
Musizieren wird bei Messiaen geradezu zu einer sakramentalen Handlung, die Musik selbst zu einer Ikone aus Klang. Bei allem Respekt vor der Lebensleistung dieses Komponisten, nicht alle Kritiker und Musikerkollegen konnten Messiaen da folgen.
Der entsetzlichen Welt enthoben
Umso erstaunlicher war die Wirkung seines "Quartetts für das Ende der Zeit". Die Uraufführung fand am 15. Januar 1941 im Gefangenenlager Görlitz statt, an einem bitterkalten Wintertag. Kleine, von Hand geschrieben Programmzettel von kalligraphischer Sorgfalt machten unter den Hunderten von Zuhörern die Runde, während der Komponist eine kurze Einführung in sein Werk gab. Messiaen erinnerte sich: "Das Violoncello von Étienne Pasquier hatte nur drei Saiten, und die Tasten meines Klaviers blieben stecken. Unglaublich auch unsere Kleidung: man hatte mich mit einer grünen, völlig zerrissenen Jacke ausstaffiert, ich trug Holzpantoffeln. Die Zuhörerschaft setzte sich aus allen sozialen Schichten zusammen: Priester, Ärzte, Kleinbürger, Berufssoldaten, Arbeiter und Bauern."
Über Messiaen wurde gesagt, er habe "die Seele eines Priesters" gehabt.
Heute ist es schwer vorstellbar, dass sich Arbeiter und Bauern zu einem Konzert mit zeitgenössischer Kammermusik aufmachen. Messiaen berichtete jedoch, nie wieder eine solche Aufmerksamkeit und ein solches Verständnis für seine Musik erlebt zu haben wie unter den Zuhörern in Görlitz. Und der Cellist Étienne erinnerte sich an die sanfte Erhebung, die die Musik angesichts der Umstände bewirkte: "Das Lager von Görlitz ..., Baracke 27B, ... draußen die Nacht, der Schnee und das Elend ..., hier ein Wunder: das 'Quartett für das Ende der Zeit' trägt uns in ein herrliches Paradies, hebt uns aus dieser entsetzlichen Welt – unendlichen Dank unserem lieben Olivier Messiaen!"
Über Messiaen wurde gesagt, er habe "die Seele eines Priesters" gehabt. Mag sein, dass zu den Gefangenen von Görlitz kein Geistlicher je so gewaltig predigte, keiner so sinnfällig vor ihnen "die Wandlung" vollzog und keiner Hoffnung so real und gegenwärtig werden ließ wie dieser Mann aus der Priesterbaracke.