Suhrkamp als Haus der jüdischen ErinnerungskulturSiegfried Unseld wäre heute 100 Jahre alt geworden

Nach dem Zivilisationsbruch der Shoah hat Siegfried Unseld jüdischen Denkern bei Suhrkamp eine verlegerische Heimat gegeben.

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Die Kultur des Eingedenkens, die vor allem durch jüdisches Denken wachgehalten wurde, ist durch die Judenvernichtungspolitik des Dritten Reiches ausgeschaltet worden. Die Bücher jüdischer Autoren wurden verbrannt, neue zwischen 1938 und 1945 nicht mehr gedruckt. Johann Baptist Metz hat diese Leerstelle in der intellektuellen Physiognomie nach 1945 beklagt und unter dem Stichwort der anamnetischen Vernunft die Dimension der jüdischen Erinnerungskultur auch in die christliche Theologie einschreiben wollen.

Auch deshalb ist das Verdienst des Suhrkamp-Verlegers Siegfried Unseld (1924-2002), der heute 100 Jahre alt geworden wäre, emphatisch zu würdigen. Er hatte nicht nur einen wachen Riecher für hochwertige Literatur und hat vielversprechende Autorinnen und Autoren wie Ingeborg Bachmann, Hans Magnus Enzensberger und Peter Handke zu Suhrkamp geholt, er war auch ein umtriebiger Netzwerker und geschickter Kommunikator, ein versierter Finanzier, allerdings auch ein dominanter Chef seinen Lektoren gegenüber.

Vor allem aber hat Unseld nach dem Zivilisationsbruch der Shoah jüdischen Denkern bei Suhrkamp eine verlegerische Heimat gegeben. Walter Benjamins fast vergessenes Werk wurde neu zugänglich gemacht, Ernst Blochs utopisches Denken – Das Prinzip Hoffnung – bekam einen Ort, nicht zu vergessen Theodor W. Adornos kulturkritische, ästhetische und philosophische Schriften, die in den 1960er Jahre weite Resonanz fanden. Auch Leo Löwenthals Essays, Gershom Scholems gelehrte Studien zur jüdischen Mystik und Kabbala, Hans Jonas Das Prinzip Verantwortung müssen in diesem Zusammenhang genannt werden. Ohne diese beeindruckende Polyfonie jüdischen Denkens hätte George Steiner 1968 nicht von der neuen „Suhrkamp-Kultur“ sprechen können, wie Jürgen Habermas soeben in der ZEIT betont hat. Nur konsequent ist, dass Suhrkamp 1991 den Jüdischen Verlag unter seine Fittiche genommen hat, der dem jüdischen Eingedenken nach der Shoah wieder Raum gibt.

Seit 1957 hat sich Siegfried Unseld auch um Paul Celan (1920-1970) bemüht, der als Dichter der Todesfuge früh Berühmtheit erlangt und Adorno zum Widerruf seines Diktums veranlasst hat, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben sei barbarisch. Unseld hat Celan Bücher geschickt, Angebote unterbreitet und ihn schließlich vom Fischer Verlag abwerben können. Atemwende war 1967 der erste Gedichtband, der bei Suhrkamp erschien. Als Siegfried Unseld dem jüdischen Dichter 1961 den Band von Nelly Sachs Fahrt ins Staublose, ebenfalls bei Suhrkamp erschienen, schickte, antwortete ihm Celan am 24. November 1961 von Paris aus: „Sie haben etwas gut gemacht mit diesem Buch – nicht wieder gut, sondern von neuem, von Haus aus. Von Ihrem Haus, dem ich wie Ihnen und den Ihren herzlich alles Gute wünsche.“ Und in einem seiner letzten Briefe vom 7. April 1970 schrieb Celan an den Verleger: „Ich glaube, ich darf sagen, dass ich mit diesem Buch (dem Gedichtband Lichtzwang) ein Äusserstes an menschlicher Erfahrung, in dieser unserer Welt und dieser unserer Zeit eingebracht habe, unverstummt und auf dem Wege zu Weiterem.“ Wenige Tage später ist Celan für immer verstummt. Dieser dem Äußersten abgerungenen Dichtung hat Siegfried Unseld dauerhaft ein Dach geboten.

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