Gott und MenschÜber das Adagio in Anton Bruckners fünfter Symphonie

Es fällt schwer, hinter dem musikalischen Geschehen aus der Feder des gläubigen Katholiken Bruckner nicht eine theologische Bedeutung zu vermuten.

Violoncello-Spieler in einem Orchester
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Als Anton Bruckner sich am 14. Februar 1875 an die Komposition seiner fünften Symphonie machte (an deren erster Niederschrift er bis in den Mai 1876 arbeitete), begann er mit dem zweiten, dem langsamen Satz. Das Vorgehen war durchaus ungewöhnlich; offenbar war dieses Adagio zentral für ihn, sowohl im Hinblick auf die Gesamtkonzeption der Symphonie wie auch – womöglich – als persönliches Bekenntnis.

Die meisten, die das gesamte Werk hörend nachvollziehen, mögen in der Tat diesen langsamen Satz intuitiv als das Herzstück, die Zentralaussage der ganzen Symphonie begreifen (und ihn als einen der großartig-zärtlichsten Sätze Bruckners überhaupt empfinden). 

Wie kommt es zu dieser enormen Wirkung, und was begründet die zentrale Bedeutung des Satzes innerhalb der Gesamtkonzeption der fünften Symphonie?

Wie meist bei Bruckner, ist die Großform des Satzes nicht besonders raffiniert, ja geradezu simpel: A-B-A’-B’-A’’. Zwei unterschiedliche Abschnitte kehren also im Verlauf des Satzes verändert wieder. Auch ein anderes Markenzeichen Bruckner’schen Komponierens findet sich im Adagio der Fünften: Der Verlauf des Satzes wird weit überwiegend von achttaktigen Perioden bestimmt, von einigen freilich bedeutsamen Ausnahmen abgesehen. Die für Bruckner typische regelmäßige Periodenbildung ist in seiner gesamten Symphonik mitverantwortlich für den Eindruck der Blockhaftigkeit seines Komponierens. Hinzu kommt auch im Adagio der Fünften eine Instrumentierung, die man als "Registrierung" des Organisten Bruckner verstanden hat; so wird bei der Wiederholung des von der Oboe vorgetragenen Themas das Fagott gewissermaßen "hinzugezogen" – wie man es eben beim Orgelspielen macht.

Die als Tonsymbole verstehbaren Themenbildungen und raffinierte rhythmische Muster lassen eine theologische Deutung des ganzen Satzes möglich und plausibel erscheinen.

Diese Aspekte begründen also noch nicht die Sonderstellung dieses Adagios unter den Bruckner’schen Kompositionen. Vielmehr sind es die als Tonsymbole verstehbaren Themenbildungen und raffinierte rhythmische Muster, die aufhorchen lassen und aus Sicht des Verfassers eine theologische Deutung des ganzen Satzes möglich und plausibel erscheinen lassen. Zentral hierbei ist der dialogische Wechsel der beiden Abschnitte A und B und ihrer Abwandlungen.

Geheimnisvoller Dialog

Abschnitt A – Die Streicher spielen (pizzicato, also gezupft) triolische Viertel, die so langsam vorgetragen werden, dass die Dreierbewegung kaum wahrzunehmen ist. Viel eher empfindet man dies als langsames Schreiten und nimmt die oberen Töne der Triolen als ein thematisches Motiv war. In der Tat nehmen diese Töne das eigentliche Thema vorweg, das alsbald von der Oboe in Halben und Vierteln über den Vierteltriolen vorgetragen wird. Bemerkenswert ist hier zweierlei: die melodische Gestalt des Themas und seine Wechselwirkung mit den Triolen. Auch die Tonart ist wichtig: d-Moll, die Tonart der letzten Dinge und endgültigen Aussagen, wir denken an Bachs "Kunst der Fuge" und Mozarts Requiem. In diesem d-Moll also beginnt das Thema auf der Dominante a und fällt kadenzierend zum Grundton d hinab, um dann schrittweise zur Subdominante g aufzusteigen und wieder zum e abzufallen, dem vorletzten Ton vor dem Grundton. Es ist eine absolut elementare, quasi objektive, affirmativ-konstatierende Gestalt, freilich offen zu dem, was nun folgt: eine Abfolge zweier fallender Septimen mit einer Schlusswendung, die wieder zum e strebt (erst am Ende des ganzen Satzes wird das d als Schlusspunkt gesetzt). Elementarität, Objektivität, Affirmation (Kadenz), zugleich die wiederholt herabsteigenden Intervalle mit der Septime als zahlensymbolisch (Siebenzahl) aufgeladenem, für den weiteren Verlauf des Satzes maßgeblichem Intervall sind die Merkmale des Themas von Abschnitt A.

Im Zusammenspiel mit den Triolen ergibt sich ein vom Hörer kaum zu verstehender Effekt: Im Zusammenspiel von zwei gegen drei Vierteln wirkt das Thema beinahe synkopiert, ist es aber nicht. Es scheint zu schweben. Daraus entsteht eine Aura des Geheimnisvollen. Die letzten acht Takte des Abschnitts A tun ein Übriges: Eine gefühlte Ewigkeit lang trägt die Klarinette immer weiter absteigende Septimensprünge vor, bis die Musik zum Stillstand kommt. Es ist ein fast mystischer Abschnitt von vorerst unklarer Bedeutung.

Nun folgt Abschnitt B, der in allem das Gegenteil von A ist. Es setzen mit Macht die Streicher ein, nicht mehr pizzicato sondern arco (mit dem Bogen), "sehr kräftig, markig", schreibt Bruckner vor, "breit gestrichen". Das Thema, das hier so klangsatt präsentiert wird, ist von Sekundschritten geprägt, sehr sanglich, und es steigt immer weiter hinauf. Binnen zwölf Takten klettert es um fast drei Oktaven himmelwärts. Die rhythmischen Ambivalenzen des ersten Abschnitts fehlen; hier ist alles klar und eindeutig. Machtvoller und machtvoller wird intoniert, bis nach einem hymnischen Höhepunkt eine plötzliche Rücknahme ins Pianissimo und eine Pause folgt – so als ob die Singenden auf Antwort lauschen. War das Thema des Abschnitts A ein sprechendes, so ist dieses hier ein inbrünstig singendes. War die Stimmung im ersten Abschnitt jenseitig-mystisch, so ist sie hier diesseitig-lebensprall.  

Bei der veränderten Wiederkehr des Abschnitts A führt Bruckner zusätzlich zum Quint-/Septimfallthema und den begleitenden Viertel-Triolen eine weitere Figur ein: kleinschrittige Achtel-Sechstolen. Dieser Kunstgriff verringert die Empfindung des Schwebenden und bringt zugleich eine vorwärtsdrängende Bewegung ins Spiel. Wohin drängt diese Bewegung? Zu einem geradezu gewalttätigen Ausbruch (fortissimo, marcato sempre), bei dem das Thema des Abschnitts A abgewandelt vorgetragen wird: mit einem Oktavsprung statt einem Quintsprung zu Beginn. Man hat darauf hingewiesen, dass der Oktavsprung nach unten, diese musikalische "Urvokabel", bei Bruckner als Symbol göttlicher Majestät zu interpretieren sei (vgl. Constantin Floros: Anton Bruckner, Persönlichkeit und Werk. Hamburg 2004, 100ff.).  Ein zweiter, erregt wirkender Anlauf zu einem weiteren, dann nicht stattfindenden Ausbruch bricht unvermittelt ab, gefolgt von einer eintaktigen Generalpause. Es ist ein ganz sonderbarer musikalischer Vorgang, der wirkt, als sei gewissermaßen der Kontakt abgebrochen. Zu wem?

Abschnitt B kehrt nun verändert wieder, und es wird wieder gesungen, noch glutvoller, inbrünstiger und schöner als zuvor. Dieser Gesang verklingt bis hin zum dreifachen piano. Dann Stille.

Und nun kehrt erneut das Quintfallthema mit den folgenden Septimen zurück, nun sogar von Sechzehntel-Sechstolen untermalt. Während diese einerseits für noch mehr Vorwärtsbewegung sorgen, schreibt andererseits Bruckner vor, das Thema sei "langsamer" als zu Beginn vorzutragen, wodurch es noch mehr Bedeutung bekommt. In Summe führt das zu einer erheblichen Intensivierung des Klanggeschehens, das schließlich auf einen zweifachen Höhepunkt zusteuert: den geradezu wie eine Erscheinung strahlenden Vortrag des Themas in E-Dur, kurz darauf dann gar in F-Dur. Danach zieht sich die Musik gewissermaßen ins mystische Dunkel zurück und endet so leise und geheimnisvoll, wie sie begonnen hat.

Musikalisches Geschehen und theologische Bedeutung

Es fällt schwer, hinter diesem aus einer musikalischen Allerweltsform (ABA’B’A‘‘) entwickelten musikalischen Geschehen aus der Feder des gläubigen Katholiken Bruckner nicht eine theologische Bedeutung zu vermuten. Das sprechend-konstatierende Thema des ersten, das hymnisch-besingende Thema des zweiten Abschnitts; die grundsätzlich herabsteigende Bewegung des ersten und die aufwärtsgerichtete des zweiten; die auch in anderen Werken Bruckners zu findende Intervallsymbolik in Abschnitt A (Gottes Majestät); die Entwicklung in den Abschnitten A, A‘ und A‘‘ vom Mysterium zur Offenbarung: Es ist plausibel, das Adagio aus Bruckners fünfter Symphonie als Zwiesprache des Menschen (B) mit Gott (A) zu deuten.

Die zweifache Anrufung Gottes durch den Menschen führt zu einem allmählichen Erscheinen Gottes, zu einem Hervortreten seiner göttlichen Majestät.

Es ist eine Zwiesprache, bei der göttliche und menschliche Sphäre sich niemals mischen, aber miteinander interagieren. Die zweifache Anrufung Gottes durch den Menschen führt zu einem allmählichen Erscheinen Gottes, zu einem Hervortreten seiner göttlichen Majestät. Manchmal freilich scheint Gott plötzlich zu verstummen (am Ende von A‘). Eingebettet ist diese Zwiesprache des Menschen mit Gott in eine symphonische Gesamtkonzeption der Fünften, an deren Beginn eine sich aus dem Nichts leise entwickelnde langsame Einleitung als Schöpfungsakt steht und an deren Ende ein glanzvoller Choral als Großer Lobpreis. Das Scherzo wiederum mit seinen Ländlerrhythmen ist eine Hymne auf das irdische Leben, das freilich von der Existenz Gottes grundiert und bestimmt wird: denn die triolischen Viertel des Adagios bilden auch hier die motivische Grundlage des Satzes. Die fünfte Symphonie insgesamt entfaltet so mit musikalischen Mitteln und ausgehend von ihrem Adagio das Bild einer geheimnisvollen und letztlich gelingenden Gott-Mensch-Beziehung.

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