Es ist ein emotionales Ereignis, symbolisch in höchstem Maße aufgeladen: Nach dem Brand vor fünf Jahren wird die Pariser Kathedrale am Samstag wiedereröffnet. Wie erklärt sich die erstaunliche Anteilnahme am Schicksal von Notre-Dame? Und was heißt das für die katholische Kirche?

So sehr einige Beobachter im Brand von Notre-Dame ein Bild für den krisengeschüttelten und zahlenmäßig im freien Fall sich befindenden katholischen Glauben sahen, so sehr wittert manch einer in der spektakulären, ja fast wundersamen Wiederrichtung in nur fünf Jahren, ein Zeichen für einen kirchlichen Neuaufbruch in Frankreich, der sich zum Beispiel in der rapid steigenden Anzahl an Erwachsenentaufen manifestiere. Aber ganz so einfach ist es nicht.

Die Wiedereröffnung von Notre-Dame ist ein sehr stark emotional und symbolisch geprägtes Ereignis. Aber um wessen Emotionen und welche Symbole geht es hier? Wer fühlt sich vom Schicksal der Pariser Kathedrale wie betroffen? Und wofür steht sie für wen? Das sind schwierige Fragen, die nicht ohne gebührende Differenzierung beantwortet werden können.

Fangen wir mit den Emotionen an. Man kann wohl davon ausgehen, dass die Freude über die so rasch, kunstfertig und liebevoll wiederaufgebaute Kathedrale das positive Spiegelbild zum Schmerz über den Brand darstellt. Kann man sinnvoll unterscheiden zwischen denen, die damals, am 15. April 2019, den Schmerz um die in Flammen stehende Kathedrale von Paris als ihren eigenen empfanden, und denen, die Anteil nahmen am Schmerz der anderen, der direkt Betroffenen?

Sicherlich fühlten und fühlen sich auch Nichtkatholiken und Nichtfranzosen rund um die Welt direkt betroffen.

Noch am Abend des Brandes sprach Präsident Macron in einem ersten Interview, nach dem Dank an die Einsatzkräfte für ihren heroischen und unermüdlichen Einsatz, als Erstes den Katholiken Frankreichs und der ganzen Welt, die soeben die Karwoche begonnen hatten, seine Anteilnahme aus. Als Nächstes wandte er sich an die Bevölkerung von Paris, die um "ihre Kathedrale" trauert, bevor er schließlich alle Franzosen und Französinnen als direkt Betroffene ansprach: "Notre-Dame von Paris ist unsere Geschichte, (…) das Epizentrum unseres Lebens." In der offiziellen Stellungnahme vom nächsten Tag fehlt jedoch jegliche Erwähnung der Katholiken und der Kirche.

Sicherlich fühlten und fühlen sich auch Nichtkatholiken und Nichtfranzosen rund um die Welt direkt betroffen: Glaubende anderer Konfessionen und Religionen, die von der Zerstörung und dem Wiederstehen eines bedeutenden Gotteshauses berührt werden; Europäer, die in Notre-Dame ein Wahrzeichen europäischer Kultur erkennen; Kunstliebhaber, die das Schicksal eines gotischen Meisterwerks bewegt; Geschichtskundige, die in diesem jahrhundertealten Bauwerk einen Zeugen für unzählige epochale Ereignisse, die den letztlich den Lauf der Weltgeschichte mitbestimmt haben, vor Augen haben; Menschen, die in diesem von Menschenhand errichteten Monument einen Ausdruck der sich über die Naturnotwendigkeiten hinaus strebenden Menschheit sehen …

Wem gehört Notre-Dame?

Womit wir mitten in der Symbolik Notre-Dames angelangt wären. Augenscheinlich übersteigt diese Symbolik einzelne Kategorien, sie lässt sich nicht auf eine eindimensionale Bedeutung festlegen und verbietet damit jegliche univoke Auslegung. Kann man daher sagen, in gewissen Sinn gehört Notre-Dame jedem Menschen (sie ist ja seit 1991 Weltkulturerbe), sodass letztlich alle von ihrem Schicksal betroffen sind?

Tatsächlich sind selbst die rechtlichen Besitzverhältnisse komplex. Ursprünglich gehörte die Kathedrale von Paris selbstverständlich der Kirche, genauer der Erzdiözese Paris. Mit der Französischen Revolution ging sie in Staatseigentum über und bleibt es bis heute. Seit der Trennung von Staat und Kirche 1905 ist die katholische Kirche allerdings einziger Verfügungsberechtigter über die Nutzung der Kathedrale. Notre-Dame ist damit nationales Eigentum und doch eindeutig katholisch.

Das hängt natürlich mit der Geschichte Frankreichs zusammen. Seit dem Konkordat Napoleons war der Katholizismus, bis auf ein kurzes Intermezzo unter der monarchistischen Restauration, nicht mehr Staatsreligion, aber lange auch offiziell als Religion der Mehrheit der Franzosen anerkannt. Bis in die 1960er Jahre bezeichneten sich auch über 95 Prozent der Franzosen als katholisch. Laut einer staatlichen Statistik waren es 2008 noch 43 Prozent der 18–59-Jährigen. Im Jahr 2020 war der Anteil in derselben Altersgruppe auf 25 Prozent gesunken. Im Vergleich zu dieser drastischen Schmelze des katholischen Milieus wirken die paar tausend Erwachsenentaufen wie ein Tropfen auf den heißen Stein.

So komplex und fragil wie die rechtlichen Besitzverhältnisse – man denke an die aktuelle Debatte um vom Staat einzuführende kostenpflichtige Eintrittskarten für die Kathedrale von Paris, was die alleinige Verfügungsgewalt über die Nutzung des Kirchenraumes infrage stellen würde – sind auch die symbolischen und emotionalen Beziehungen zu Notre-Dame. Bei der präsidialen Besichtigung der Kathedrale am 29. November, im Beisein des Erzbischofs von Paris, stand eindeutig die beachtenswerte Leistung der Handwerker und die geschichtliche und kulturelle Bedeutung des Gebäudes im Vordergrund. Der religiöse Sinn und Zweck von Notre-Dame kamen kaum zur Sprache.

Man kann hier zwei zentrale Motive erkennen, die von der Kirche produktiv aufgegriffen werden sollten: das Zugehörigkeitsbedürfnis zu einer geschichtlich gewachsenen identitätsstiftentenden Gemeinschaft, die man nur widerwillig mit der allzu menschlichen Institution, dafür aber umso bereitwilliger mit ihrem Stein gewordenen Symbol in Verbindung bringt; und das zeitlos menschliche Verlangen nach Spiritualität und Transzendenz.

Wie kann man die ungeheuer starke emotionale Bindung der Franzosen an die Pariser Kathedrale bei gleichzeitiger rasanter Entfremdung vom Katholizismus verstehen und deuten? Ist Notre-Dame nur ein anderes Versailles: das mittelalterliche Äquivalent zum steinernen Zeugen des Ancien Régime? Oder spielt die Vertikalität, die im Vierungsturm ihren vollkommenen Ausdruck gefunden hat, doch eine Rolle?

Man kann hier zwei zentrale Motive erkennen, die für die Zukunft des katholischen Glaubens in Frankreich, und vielleicht auch darüber hinaus, von Bedeutung sind und von der Kirche produktiv aufgegriffen werden sollten: das Zugehörigkeitsbedürfnis zu einer geschichtlich gewachsenen identitätsstiftentenden Gemeinschaft, die man nur widerwillig mit der allzu menschlichen Institution, dafür aber umso bereitwilliger mit ihrem Stein gewordenen Symbol in Verbindung bringt; und das zeitlos menschliche Verlangen nach Spiritualität und Transzendenz. Ganz konkret deutet das auf die große Chance und Herausforderung der Tourismuspastoral in unseren altehrwürdigen Kirchen und Kathedralen hin. Hier liegt ein Schatz, den es für die Evangelisierung zu heben gilt. 

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