Maurizio Pollini ist tot. Der Aristokrat unter den großen Klavier-Virtuosen wird nicht mehr spielen. 1960 hatte er – keine 20 Jahre alt – den Warschauer Chopin-Wettbewerb gewonnen. Sein fulminantes Klavierspiel hatte Artur Rubinstein, Mitglied der Jury, zu der Bemerkung gegenüber seinen Mitjuroren veranlasst: "Der Bursche spielt besser als wir alle." Pollinis frühe Einspielung der Chopin-Etüden op. 10 und op. 25 ist legendär. Schon Mitte der 1980er Jahre hat mich als Schüler seine Grammophon-Aufnahme der späten Beethoven-Sonaten in Bann geschlagen. Sie hat mich im Studium begleitet, immer wieder habe ich sie gehört.
Die Trias der Sonaten op. 109, 110 und 111, die Beethoven – schon fast taub – in zeitlicher Nähe zur Missa solemnis komponiert hat, zeigen die formensprengende Impulsivität und unkonventionelle Sprödigkeit von Beethovens Spätstil. Die Triller-Kaskaden der E-Dur-Sonate op. 109 – eine "Auferstehungsmusik", die in Hartmut Langes Novelle Das Konzert eine wichtige Rolle spielt –, hat Pollini mit einer technischen Präzision und geradezu unbändigen Vitalität gespielt. Die Melancholie des langsamen Satzes aus der Sonate op. 110 mit dem Arioso dolente, in dem die metaphysische Trauer über die Kreatürlichkeit durch absteigende Seufzer-Sekunden über dem Triolen-Teppich der moll-Akkorde sich Ausdruck verschafft – unvergesslich, wenn man sie mit Pollini einmal gehört hat. Unnachahmlich auch die letzte Sonate in c-moll op. 111. Kraftvoll der schroffe Beginn, dann die vorwärtsdrängenden Synkopen in den Variationen des zweiten Satzes, kantig die Konturen in der linken Hand, virtuos die Läufe in der Fuge und der taktelang anhaltende Triller über dem abfallenden Quart-Motiv, das Thomas Mann in seinem Roman Doktor Faustus als Hommage an Theodor W. Adorno mit dem Namen "Wiesengrund" verbunden hat …
Nachdem der letzte Akkord verklungen war, hat das Auditorium nicht applaudiert, es konnte nicht – zu überwältigend war der Eindruck – Einbruch des Anderen in die Zeit. Sekundenlanges Schweigen als Reflex einer ästhetischen Erschütterung, die man nicht machen kann und die sich nur selten ereignet.
Doch die musikologische Sprache versagt. Sie reicht nicht an die Höreindrücke heran. Man müsste über eine Sprache verfügen, die Erfahrungen der menschlichen Selbsttranszendenz beim Hören von Musik angemessen in Worte bringt. Auf YouTube berichtet ein Hörer, wie er vor Jahren ein Konzert von Pollini besucht hat. Nachdem der letzte Akkord verklungen war, hat das Auditorium nicht applaudiert, es konnte nicht – zu überwältigend war der Eindruck – Einbruch des Anderen in die Zeit. Sekundenlanges Schweigen als Reflex einer ästhetischen Erschütterung, die man nicht machen kann und die sich nur selten ereignet.
Maurizio Pollini hat – trotz aristokratischer Attitüde – in den 1970er Jahren in Fabrikhallen gespielt, um Arbeitern einen Zugang zu klassischer Klaviermusik zu bahnen. Mit dem Komponisten Luigi Nono und dem Dirigenten Claudio Abbado hat er sich für die italienische Linke eingesetzt, später auch gegen Berlusconis nationalistische Politik demonstriert. Das Paradox der Interpretationskunst Pollinis besteht darin, dass er gerade durch seinen analytisch-rationalen Zugang zu Werken der Klassik und Romantik emotionale Reaktionen erzielt hat. In einem Interview mit dem FAZ-Musikkritiker Jan Brachmann hat Pollini bemerkt: "Es gibt in Beethovens Musik Momente, die in die Nähe religiöser Erfahrung führen können." So ist es. Wer Ohren hat, der höre …