Seit dem 19. Jahrhundert wendet die theologische Reflexion vermehrt ihre Aufmerksamkeit der ästhetischen Erkenntnis zu. Seitens der katholischen Theologie sind François René Chateaubriand mit seiner Schrift "Le Génie du Christianisme ou beauté de la réligion chrétienne’"oder Matthias Joseph Scheeben mit seinem systematischen Entwurf "Herrlichkeit" zu nennen, in der evangelischen Theologie das epochemachende Werk "Der christliche Glaube" von Friedrich Schleiermacher. Henri Lacordaire, dem große Verdienste für die Wiederbelebung der katholischen Kirche nach der Französischen Revolution zukommen, hatte das Potenzial der Künste für die Verkündigung des Evangeliums in seinen pastoralen Schriften betont, als er im Jahr 1839 die "Confrérie St Jean" gründete, um den Dialog zwischen Kirche und Kunst zu fördern.
Dieser systematische Zugang muss jedoch immer wieder reflektiert werden, soll die Theologie weder in den Künsten aufgehen oder durch diese negiert werden, noch die Künste in einer anachronistischen Weise als Dienerinnen der Theologie betrachtet werden. Für die heutige Beschäftigung der systematischen Theologie mit der Kunst im Allgemeinen steht das Werk des Schweizer Theologen Hans Urs von Balthasar: Sein Ansatz, Theologie und Kunst in einen Dialog zu bringen, lässt sich paradigmatisch an seinem Musikverständnis nachzeichnen.
Musik und Literatur bilden aber wichtige Vorstufen zu seinem theologischen Werk. Form und Stil seiner Theologie werden von der Musik beeinflusst.
Außerordentliche musikalische Begabung
Hans Urs von Balthasars muss außerordentlich musikalisch begabt gewesen sein: Während des Noviziats bei den Jesuiten stellt er eine Messkomposition fertig, deren Anfänge bis in seine Schulzeit in Engelberg zurückreichen. Mit Eintritt in die Gesellschaft Jesu war es aber, so Originalton von Balthasar, "mit der Musik aus".
Musik und Literatur bilden wichtige Vorstufen zu seinem theologischen Werk. Form und Stil seiner Theologie werden von der Musik beeinflusst. In jungen Jahren veröffentlicht er in Zeitschriften Artikel zu Theologie und Musik, etwa "Katholische Religion und Kunst" (1927/28), "Kunst der Fuge" (1928/29) und weitere. Die Musik und die musiktheoretischen Schriften von Richard Wagner finden im ersten Band seiner "Apokalypse der deutschen Seele" eine ausführliche Beurteilung. Die Arbeit "Die Entwicklung der musikalischen Idee" stellt den Versuch einer Synthese der Musik dar. Sie fand im deutschsprachigen Raum zunächst wenig Beachtung.
Die Schöpfung als Weltoper
Die theologische Ästhetik versteht die Ästhetik als weltliche Kategorie, die helfen kann, etwas Theologisches zu verstehen. Die Transposition (ein musiktheoretischer Begriff!) der Ästhetik führt auf das biblische Moment der kabod, der Herrlichkeit Gottes. Von Balthasar geht es in seinem theologischen Werk um die Christianisierung alles Geistigen. Die Zusammenarbeit und Freundschaft mit Karl Barth in Basel steht unter dem Zeichen der gemeinsamen Begeisterung für die Musik Mozarts und sensibilisiert von Balthasar für die für ihn typische Verbindung von Wort und Musik, für die Idee, Musik als Sprache, als Poesie der Offenbarung zu verstehen: "Gott führt in seiner Offenbarung eine Sinfonie auf".
Hans Urs von Balthasar komponiert in seinen Werken "Herrlichkeit" – "Theodramatik" – "Theologische Logik" die Schöpfung sozusagen als eine Weltoper. Den "ersten Akt", das Werk "Herrlichkeit", versteht er als eine kulturell-geschichtliche "Orchestrierung", um zu zeigen, welche Schätze Kirche und Theologie besitzen, die "Theodramatik" wendet diesen Ansatz ins Theatralische als erlösendes Drama zwischen Gott und Mensch.
Die Musik ist Symbol für die dynamische Entwicklung der Welt. Sie ist deshalb für von Balthasar eine Möglichkeit, Wahrheit auszudrücken.
Die theologische Ästhetik versteht sich weder als Kunstreligion im Sinne Wagners und Mahlers, noch als eine Ästhetisierung der Theologie, vor der bereits Søren Kierkegaard warnte. Das Schöne in der Welt ist kein Abbild, sondern reale Präsenz und Performance des Schönen. Christoph Theobald versteht in seinem systematischen Entwurf das Christliche als Stil: Das Christentum in der Figur des Stils zu denken, bedeutet zu zeigen, wie das ästhetische Konzept als Ablösung des dogmatischen Paradigmas verstanden werden kann und neue Wege für die Theologie eröffnet.
Reine Form unmittelbarer Wahrheit
Das Musikverständnis Hans Urs von Balthasars kann als Prototyp dieses neuen Verständnisses dienen. Wie geht von Balthasar für diesen Ansatz vor? Musik ist zeitliche Kunst. Sie geht von etwas aus, sie wandert, sie kommt an oder kehrt zurück. Sie ist der ewige Fluss, die ewige Mannigfaltigkeit, die Melodie schwebt als sinnvolle Verbindung in ihr. Die Musik ist Symbol für die dynamische Entwicklung der Welt. Sie ist deshalb für von Balthasar eine Möglichkeit, Wahrheit auszudrücken. Das Charakteristikum der Musik besteht in ihrer Konzentration und Expansion, das Wirken Gottes in der Welt darzustellen, jenseits des Gedanklichen, des Wörtlichen oder Geschauten, kurzum als reine Form unmittelbarer Wahrheit.
Die Musik als Faktor theologischer Erkenntnislehre geht davon aus, dass Musik als jene menschliche, leib-geistige Produktion anzusehen ist, die den Menschen dem Geist am nächsten bringt. Es bleibt aber stets eine Annäherung. Aber, das ist der erkenntnistheoretische Gewinn der Musik für die systematische Theologie, sie ist Grenze des Menschlichen und an dieser Grenze beginnt das Göttliche.
Sein Ansatz bringt die Theologie als eigenständige Größe in das Gespräch zwischen Kunst und Kirche, Kunsttheorie und theologischem Diskurs ein.
Dieser theoretische Ansatz kann an einer Arbeit von Balthasars aus dem Jahr 1943, die in den Sammelband "Spiritus Creator" Eingang fand, illustriert werden: das Abschiedskonzert aus der Zauberflöte. Die theologische Deutung des Terzetts sieht die Musik als konstitutive Grenze, die zwischen Gott und Mensch waltet. Im Abschied zweier Liebender eröffnet sich der mögliche Raum, die alle Abschiede überbietende Offenbarung ewiger Schönheit, wie sie sich im Duett zwischen Tamino und Pamina realisiert. Ruf und Erinnerung Sarastros: "Die Stunde schlägt, nun müsst ihr scheiden", hebt den Gesang beider Liebender auf eine qualitativ andere Ebene. Im Irdischen wird jenseitiger Raum sichtbar, der nicht nachträglich hineingetragen wird. Die Welt ist Raum der Erlösung, das christliche Hoffnungspotenzial, dogmatisch im Traktat der Eschatologie verhandelt, wird in der Kunstform "Musik" musikalisiert, das heiß die christliche Hoffnung in einem "neuen Lied" vertont (vgl. Ps 98.1).
Musik als Quelle theologischer Erkenntnis
Die allen endgültigen Abschied überholende Offenbarung der Schönheit wird im Raum der Inkarnation Realität. Dogma wie Musik sind organische Phänomene, die sich geschichtlich entfalten: Die Offenbarung vollzieht sich in Geschichte und ist geschichtlich. Wahrheit, so lautet eine kleine Schrift von Balthasars, ist sinfonisch. "Sinfonie heißt Zusammenklang. Es klingt. Verschiedenes klingt. Das Verschiedene klingt ineinander. (…) In der eigentlichen Sinfonie (…) integrieren alle Instrumente zum Gesamtklang. (…) Das Orchester muss pluralistisch sein, um den Reichtum der Totalität entfalten zu können, die der Komponist im Ohr hat."
Hans Urs von Balthasar kommt nicht nur das Verdienst zu, in einer innovativen Weise Musik ansatzweise als sekundäre Quelle theologischer Erkenntnis herausgestellt zu haben. Er verbindet damit außerdem im Rahmen einer Rezeptionsästhetik die objektive und die subjektive Dimension theologischen Erkennens und Handels.
Sein Ansatz bringt die Theologie als eigenständige Größe in das Gespräch zwischen Kunst und Kirche, Kunsttheorie und theologischem Diskurs ein.
Seine theologische Ästhetik nimmt unter den Bedingungen der Moderne das komplexe Geflecht von Autonomie und Schöpfung, Immanenz und Transzendenz in einem innovativen Ansatz auf. Die Metapher "Weltoper" (mit Gott als Komponist) macht diesen Ansatz verständlich und plausibel. Sie zeigt, dass Gott in seiner Offenbarung eine Sinfonie aufführt, von der nicht gesagt werden kann, was reicher ist: der einheitliche Einfall des Komponisten oder das vielfältige Orchester der Schöpfung, das er sich dafür bereitet hat.