Benjamin Leven: Sie schreiben in Ihrem Buch "Was vom Glauben bleibt. Wege aus der atheistischen Apokalypse": "Wir leben im dritten Jahrhundert des Experiments ohne Gott." Wie ist der Stand des Experiments? Wie kommt unsere Gesellschaft, unsere Kultur ohne Gott zurecht?*
Bernd Stegemann: Ich fürchte, zusehends schlechter. Ich habe mich der Frage von der Seite des Unglaubens genähert, was das Ganze zu einem seltsamen Unternehmen macht. Mir ist aufgefallen, dass es in der Politik, in der Kultur und in allen sozialen Zusammenhängen einen zunehmenden Drang zu fundamentalen Erklärungen gibt, zu apodiktischen Aussagen, zu Meinungen, die sich selbst für absolut wahr halten, und zu einem Zukunftsbild, das apokalyptischen, endzeitlichen Fantasien folgt. Wie man an den Worten schon merkt, sind das alles Eigenschaften, die ursprünglich mit Glauben und Religion verbunden waren. Aber die Menschen, die sich so äußern, halten sich für säkular, und sie sind stolz darauf, säkular zu sein. Dieser Widerspruch beschäftigt mich schon seit Jahren. Ich sage: Ihr seid einerseits so stolz auf eure Rationalität und eure Säkularität, und auf der anderen Seite greift ihr immer unverblümter zu den Kategorien des Absoluten.
Leven: Sie sprechen vom Nachleben christlicher Glaubenspartikel in säkularisierter Form. Was ist so problematisch daran?
Stegemann: Es handelt sich dabei um sehr starke Energien und Gefühle. Diese Gefühle haben die Tendenz dazu, sich vehement durchsetzen zu wollen. Das macht seit jeher einen Grundklang von Religion aus, dass sie dicht am Fanatismus gebaut ist und sie die Tendenz hat, sich selbst für absolut gültig zu halten - und darum für berechtigt, Widersprüche zu beseitigen, auch mit Gewalt. Das sind Eigenschaften der Religion, die wir in der Säkularisation als allererstes versucht haben, zu mildern. Es galt immer als Hauptkritikpunkt an der Kirche, dass sie so einen brutalen Zugriff auf die Seelen hat – und diese Seelen wiederum so einen brutalen Zugriff auf die Welt. Allerdings hat die Säkularisierung diese Seite von Religion überbetont. Denn es gibt auch die Gegenseite: die Demut, den Versuch, der Radikalität eine innere Bremse zu verleihen, indem man freundlich und demütig, mit Glaube, Liebe und Hoffnung, auf die Welt schaut. Aus meiner ungläubigen Sicht auf den Glauben halte ich das für das alles entscheidende Kriterium der christlichen Religion.
"Wir denken, dass wir uns mit technischen Erfindungen und politischen Maßnahmen von unseren eigenen Irrwegen erlösen können."
Leven: Eine wichtige Rolle in Ihrem Buch spielt der Begriff der politischen Gnosis. Sie beziehen sich auf den Philosophen Eric Voegelin und sprechen vom säkularen Fortwirken einer dunklen Unterströmung des Christentums. Was hat es damit auf sich?
Stegemann: Voegelin ist vor den Nazis nach Amerika geflohen und hat dann sein Leben lang darüber nachgedacht, wie es eigentlich zu dieser Radikalisierung von Politik kommen konnte. Seine These war, dass in den zwei großen menschenmordenden Ideologien des 20. Jahrhunderts, Stalinismus und Faschismus, die Gnosis weiterlebt. Diese seltsam verschobene Verwandte des Christentums sagt: Der Mensch ist dazu in der Lage, sich selbst zu erlösen. Dieser Grundgedanke hat eine Faszination, steht aber konträr zum christlichen Verständnis, nach dem der Mensch nur in der Gnade auf Erlösung hoffen kann. Für Voegelin sind Faschismus und Stalinismus erst durch die gnostische Vorstellung einer innerweltlichen Erlösung möglich geworden. Heute begegnet uns diese Idee wieder: Wir denken, dass wir uns mit technischen Erfindungen und politischen Maßnahmen von unseren eigenen Irrwegen erlösen können. Und das ist etwas, das man mit Voegelin und anderen aus einer gläubigen Perspektive hinterfragen müsste.
"Wir sollten nicht die Krisen der Welt verharmlosen, aber auch nicht unsere eigene Perspektive auf diese Krisen absolut setzen. Das ist das, was ich meine gelernt zu haben in meiner zarten, ersten Beschäftigung mit dem Christentum: Dass sich das Ego des säkularen Individuums nicht absolut setzen und für gottgleich erklären sollte."
Leven: Wir haben große, globale Probleme, die wir selbst hervorgerufen haben, zum Beispiel die Klimaerwärmung. Was bleibt uns denn anderes übrig, als unsere technischen und politischen Möglichkeiten zu nutzen, um sie zu bekämpfen? Oder sollen wir einfach nur beten und hoffen, dass sich der Zustand wieder bessert?
Stegemann: Interessant, dass Sie als Vertreter einer christlichen Zeitschrift das Beten als ein seltsam spinnertes Verhalten der Welt gegenüber darstellen. Den Widerspruch, den Sie konstruieren, gibt es nicht. Es wäre vielmehr sinnvoll, das als Synthese zu denken. Wir können nicht auf die Technik verzichten, aber wir sollten sie nicht zum Götzen machen. Wir sollten nicht den Klimawandel infrage stellen, aber auch nicht unsere eigene Panik vor dem Klimawandel zur fundamentalen Wahrheit erklären. Wir sollten nicht die Krisen der Welt verharmlosen, aber auch nicht unsere eigene Perspektive auf diese Krisen absolut setzen. Das ist das, was ich meine gelernt zu haben in meiner zarten, ersten Beschäftigung mit dem Christentum: Dass sich das Ego des säkularen Individuums nicht absolut setzen und für gottgleich erklären sollte.
Leven: Nun könnte man einwenden, dass das Problem darin liegt, dass die Säkularisierung nicht konsequent genug in der Tilgung des christlichen Erbes war: Wenn alle Überreste religiöser Überzeugungen einmal verschwunden wären, könnten wir unsere Probleme rein rational analysieren und dann ebenso rational lösen.
Stegemann: Das hat Jürgen Habermas ein Leben lang versucht – und am Ende ein zweibändiges Werk über die Religion geschrieben, in der er auf die große Glaubenstradition des Christentums schaut und sagt: Wir müssen es aus einer säkularen, rationalen Perspektive schaffen, diese ganz anderen Sprachbilder, diese ganz anderen Ausdrucksformen der Religion nutzbar zu machen. Wir müssen so rational wie möglich sein, aber auch anerkennen, dass die säkulare Rationalität nichts Absolutes ist, dass die Rationalität vielmehr verloren geht, wenn sie sich selbst absolut setzt.
Leven: Also braucht man den Glauben als Absicherung dafür, dass die Vernunft nicht abgleitet?
Stegemann: Das wäre eine sehr kritische Perspektive auf Habermas, die man einnehmen kann: Habermas instrumentalisiert den Glauben, um seinen Atheismus noch besser zu machen. Man könnte es aber auch als den Versuch eines Menschen sehen, der lange an einem geschlossenen System ohne Gott gearbeitet hat, anzuerkennen: Es gibt eine Leerstelle, die ich bedenken muss, auch als jemand, der persönlich gar keinen Zugang zum Glauben hat.
Identitätspolitik und Universalismus
Leven: In Ihrem letzten Buch ging es um die Wiederkehr der Identitätspolitik, die Sie beklagen. Welche Rolle spielen dabei die säkularisierten Glaubenspartikel?
Stegemann: Identitätspolitik ist Politik aus der ersten Person Singular oder Plural: Ich als Individuum oder wir als Gruppe verlangen Folgendes … Das war schon in der Steinzeithorde so. Der Amoklauf der Identitätspolitik war der Nationalsozialismus. Der große Fortschritt, den die Demokratien seit 1945 gemacht haben, war, dass aus einer allgemein rationalen Perspektive heraus argumentiert wurde und nicht mehr auf der Grundlage von Einzelinteressen. Seit etwa 15 Jahren feiert die Identitätspolitik aber eine Renaissance, indem nun alle möglichen Identitäten in dieser zersplitterten Gesellschaft sagen: Das mit dem Universalismus ist doch eigentlich ein großer Betrug, denn meine eigene Identität kommt darin zu kurz. Ansprüche, die aus der Ich-Perspektive formuliert werden, sollen wieder zu allgemeinen Regeln gemacht werden.
Leven: Und was ist nun das Christliche daran?
Stegemann: Ein Antreiber für diese neue Identitätspolitik ist die genuin christliche Vorstellung, dass man dem Opfer eine Stimme geben und sich den Schwachen zuwenden muss. Aber ein entscheidender zweiter Gedanke wird dabei einfach ausgeblendet: dass nicht grundsätzlich das Opfer im Recht ist. Die Täter werden heute automatisch schuldig gesprochen, sie haben kein Verteidigungsrecht. Die Unschuldsvermutung gilt nicht mehr.
Leven: Sie beschreiben sich selbst als ungläubig. Bedauern Sie es, dass Sie nicht glauben?
Stegemann: Ich würde nicht von Bedauern sprechen. Es ist ein leider wahres Bild für einen Menschen, der im 20. Jahrhundert geboren ist und im 21. Jahrhundert als Erwachsener lebt. Wie man das ändern kann, ist eine offene Frage.
"Mein ganzes Buch ist der auf 250 Seiten ausgebreitete Zweifel eines Ungläubigen an seinem Unglauben."
Leven: Blaise Pascal empfiehlt dem Ungläubigen einfach so zu tun, als ob man glaubt: Weihwasser nehmen, Messen lesen lassen und so weiter.
Stegemann: Ich weiß. Knie dich hin und du wirst beten. Das ist, glaube ich, auch eine zutiefst katholische Einstellung.
Leven: Joseph Ratzinger schreibt in seiner "Einführung in das Christentum", der Ungläubige müsse an seinem Unglauben genauso zweifeln wie der Gläubige an seinem Glauben. Zweifeln Sie an Ihrem Unglauben?
Stegemann: Mein ganzes Buch ist der auf 250 Seiten ausgebreitete Zweifel eines Ungläubigen an seinem Unglauben. Damit könnte man es gut zusammenfassen.
*Kurzfassung des Gesprächs von Bernd Stegemann mit COMMUNIO-Redaktionsleiter Benjamin Leven. Das vollständige Gespräch hören Sie im Podcast.