Benjamin Leven: "Mit der Bergpredigt kann man keine Politik machen." Dieser Satz wird Otto von Bismarck zugeschrieben. Auch Helmut Schmidt soll ihn gesagt haben. Was ist damit gemeint? Soll damit ausgesagt werden, dass die ethische Orientierung, die in diesem Text steckt, für politische Entscheidungen ohne Belang ist oder vielleicht sogar hinderlich? Herr Söding, wie ist das: Kann man mit der Bergpredigt Politik machen?
Thomas Söding: Ja, man kann mit der Bergpredigt Politik machen: Wenn man die Bergpredigt nicht fundamentalistisch liest, wenn man ihren Ort genau bestimmt und wenn man ihre Perspektive benennt. Dann werden drei Aspekte deutlich. Erstens: Es kommt auf die innere Haltung an, also die Bereitschaft zur Gerechtigkeit. Zweitens: Es gibt mehr als Politik, nämlich das Reich Gottes. Und drittens: Es gibt in diesem begrenzten Bereich des Politischen die Option für Gerechtigkeit, die am besten auch noch mit Barmherzigkeit verbunden ist.
Leven: Nehmen wir mal einen Ausschnitt aus der Bergpredigt, so wie sie bei Matthäus steht, der auch noch nach zwei Jahrtausenden christlicher Prägung auch für viele Christen irritierend ist: "Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die Rechte Wange schlägt, dann halte ihm auch die andere hin. (…) Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen." Welche politischen Schlussfolgerungen lassen sich aus diesen Sätzen ziehen?
"Das, was hier gesagt wird, ist ins Herz der Politik gesprochen. Es kommt darauf an, alles in ein Friedensprojekt zu investieren. Es gibt prinzipiell keine Grenzen, wenn es darum geht, den Gegner zu gewinnen."
Söding: Jesus war kein Weltregent. Er verkündet das Reich Gottes, errichtet aber keinen Gottesstaat. Das Gebet, von dem hier die Rede ist, ist etwas originär Religiöses. Man kann es auch dann sprechen, wenn andere Handlungsmöglichkeiten verstellt sind. Eine fundamentalistische Exegese würde nun die provokanten Beispiele, die Jesus nennt, …
Leven: … die andere Wange hinhalten, wenn man ins Gesicht geschlagen wird, zwei Meilen mitlaufen, wenn man gezwungen wird, mit jemandem eine Meile mitzulaufen …
Söding: … würde diese Beispiele, die aus einer Perspektive von unten, der Benachteiligten, der Opfer heraus formuliert sind, eins zu eins in politische Programme übersetzen. Das wäre falsch. Und doch ist das, was hier gesagt wird, ins Herz der Politik gesprochen. Es kommt darauf an, alles in ein Friedensprojekt zu investieren. Es gibt prinzipiell keine Grenzen, wenn es darum geht, den Gegner zu gewinnen.
Leven: Die Bergpredigt ist immer wieder für eine radikal pazifistische Position in Anspruch genommen worden. Zurecht?
Söding: Die ganze Geschichte der Bergpredigt ist eine Geschichte der Auseinandersetzungen um ihren Sinn. Ich möchte denen, die zu einem radikal pazifistischen Verständnis der Bergpredigt kommen, weder ihre Ernsthaftigkeit noch ihre Argumente absprechen. Ich lese die Bergpredigt aber anders – so, wie sie auch in der großen Tradition der katholischen Kirche gelesen worden ist, nämlich als einen Appell, Liebe und Gerechtigkeit miteinander zu verbinden. Man spricht oft davon, dass die Bergpredigt für eine reine Gesinnungsethik steht – und stellt diese einer Verantwortungsethik gegenüber. Ich bin aber der Auffassung, dass die Gesinnung der Bergpredigt gerade darin besteht, Verantwortung zu übernehmen. Die populäre Entgegensetzung von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik, wie sie von Max Weber geprägt wurde, halte ich für falsch. Zentral ist, dass nicht die Logik der Vergeltung, sondern die Logik der Versöhnung wirken soll. Eins ist klar: Wenn wir immer nur mit gleicher Münze heimzahlen würden, dann würde die Option des Friedens verstellt und der Krieg wird ins Unendliche verlängert.
"Die markantesten und relevantesten Auslegungen der Johannesoffenbarung hat es immer dort gegeben, wo totalitäre Herrschaften durchleuchtet worden sind. Kein Licht ist heller, klarer und schärfer als das der Apokalyptik."
Leven: Das letzte Buch der Bibel, die Offenbarung des Johannes, schlägt ganz andere Töne an als die Bergpredigt. Hier werden dramatische politische Bilder aufgerufen: Von Städten ist da die Rede, von der Hure Babylon, die untergeht, und vom himmlischen Jerusalem, das kommt. Wir lesen auch von Krieg zwischen Gottes Engeln und dem Drachen. Diese Bilder sind in der Geschichte immer wieder politisch kurzgeschlossen worden. Wenn irdische Auseinandersetzungen als endzeitliche Kämpfe gegolten haben, wenn die Nationalsozialisten das 1000-jährige Reich ausgerufen haben oder wenn säkulare Ideologien mit Gewalt das Paradies auf Erden herbeiführen wollten. Sollte man von diesem Text nicht doch lieber die Finger lassen?
Söding: Um Himmels willen, nein! Dann verlieren wir das Zukunftsbild des himmlischen Jerusalem. Die Johannesoffenbarung sucht eine Sprache für das Unsägliche, für das, was schlechthin nicht zu rechtfertigen ist an Bosheit, Leid, Missgunst und Verrat. Das alles gibt es ja. Ist die Theologie in der Lage, sich diesen Katastrophen zu stellen? Ja, wenn sie die biblische Prophetie nicht verrät und wenn sie das Reich Gottes nicht nur spiritualisiert, sondern es als eine nahe gekommene Wirklichkeit betrachtet. Und das ist sie, wenn sie die Sensibilität für das Leid, das durch Machtkämpfe angerichtet wird, in ein konstruktives Verhältnis zu Gott bringt. Der Konstruktionspunkt der Verkündigung Jesu ist das Wort "Gebt dem Kaiser, was des Kaisers und Gott, was Gottes ist". Das heißt auch: Jeder Kaiser muss Gott geben, was Gottes ist. Wenn jetzt jemand, ob ein Kaiser in der Antike oder ein Machthaber in der Moderne, so tut, als ob er Gott wäre, dann verstößt er gegen das Erste Gebot. Und dagegen muss der prophetische Protest derjenigen laut werden, die an Gott glauben. Genau eine solche Konstellation durchschaut der Seher von Patmos. Deswegen hat es die markantesten und relevantesten Auslegungen der Johannesoffenbarung immer dort gegeben, wo totalitäre Herrschaften durchleuchtet worden sind. Kein Licht ist heller, klarer und schärfer als das der Apokalyptik.
Leven: Wenn also heute ein Herrscher oder ein Regime sagt: Wir führen einen Heiligen Krieg, dann steckt dahinter die Anmaßung, die Position Gottes einzunehmen?
Söding: Ja. Wir brauchen dabei übrigens nicht nur auf den Islamismus zu schauen. Denken Sie an den letzten Irakkrieg. Damals gab es zwei relevante Stimmen: die von Papst Johannes Paul II. und die des damaligen amerikanischen Präsidenten George W. Bush. Und es war Bush, der damals eine religiöse Sprache gesprochen hat. Die religiöse Aufladung des Krieges kam aus Washington – und sie war, wie man heute weiß, verheerend. Sie war vom Ansatz her falsch, weil hier apokalyptische Bilder funktionalisiert worden sind. Johannes Paul II. hat diese Sprache nicht gesprochen, sondern an die Vernunft appelliert. Auf der anderen Seite hilft es auch nicht, sich theologisch wegzuducken und zu sagen: Zu den Krisen der Gegenwart kann ich theologisch gar nicht sagen, weil Gott so ein großes Geheimnis ist. Es geht darum, die verborgene Nähe in den Brüchen, aber auch in den Aufbrüchen der Geschichte wahrzunehmen. Dabei ist der entscheidende Punkt, dass die Verbindung zwischen Religion und Politik in der Ethik besteht.
Moral und Moralisierung
Leven: Sie erwähnen in ihrem Buch die Gefahr einer Moralisierung des Politischen, die sich dann noch durch den Verweis auf Gott unangreifbar machen möchte. Wie vermeidet man diese Gefahr?
Söding: Das ist die große Herausforderung. Man muss zwischen einer Ethik des Politischen und einer Moralisierung des Politischen unterscheiden. Bei einer Moralisierung würdigt man nicht die Abwägung zwischen Aufwand und Ertrag, zwischen Mittel und Zweck, sondern verweist auf bestimmte Werte, von denen man überzeugt ist, oder auf bestimmte Ziele, die man von vorneherein verabsolutiert. Es gibt auch eine katholische Form der Prinzipienreiterei, die die Politiker allein lässt und die Kompromisse diskreditiert, die sie in den Parlamenten finden müssen. Eine weitere Variante wäre, sich völlig herauszuziehen aus den Komplexitäten eines politischen Abwägungsprozesses, sich von vorneherein auf eine bestimmte Seite zu stellen, und die wichtige Vermittlungsfrage überhaupt nicht zu bedenken.
"Die Ethik ist von Anfang an eine starke kommunikative Schnittstelle des Christentums zur Umwelt."
Leven: Sie schreiben: Mit dem Gottesglauben geht keine Sondermoral einher, sondern eine dem Anspruch nach universale Moral. Die katholische Kirche hat in ethischen Fragen vor allem mit dem Naturrecht argumentiert, weil man davon ausging, dass solche Argumente per se dann auch Nichtkatholiken einleuchten. Hat es dann überhaupt einen Mehrwert, auf der Suche nach ethischer Orientierung in die Bibel zu schauen?
Söding: Schon im Weihnachtsevangelium wird – folgt man der älteren Übersetzung – eine Koalition mit den "Menschen guten Willens" angestrebt. Die Ethik ist von Anfang an eine starke kommunikative Schnittstelle des Christentums zur Umwelt. Die Entschiedenheit, mit der auf einmal Kinder geliebt werden sollten oder sich Eheleute einander die Treue versprachen, hat positive Irritationen ausgelöst. Aber aus dem Neuen Testament heraus kommt es auch zu einer qualifizierten Transzendierung der Ethik: Meine persönlichen Möglichkeiten, das Gute zu verwirklichen, sind radikal begrenzt. Und wenn ein politisches System versucht, das Heil der Welt zu errichten, endet das mit Sicherheit in der Tyrannei. Politik ist nur Politik. Ja, ich kann sie rational betreiben, dann kann ich sie auch ethisch orientieren. Ohne diese Relativierung des Politischen bleibe ich in einer internen Systemlogik, die allenfalls noch Verfahrensregeln optimieren kann. Deswegen ist es wichtig, sich mit der Bibel zu beschäftigen. Und ich sehe auch nach wie vor eine weitverbreitete Bereitschaft, das zu tun.
Zeitbedingtes und Zeitloses
Leven: Die Texte der Bibel sind alt. Sie setzen einen ganz anderen kulturellen, sozialen, politischen Hintergrund voraus, der mit unseren heutigen Gesellschaften wenig gemeinsam hat. Wieso haben diese Texte uns heute trotzdem etwas zu sagen? Dass Aussagen der Bibel, auch Aussagen moralischer Art, zeitbedingt seien, das hört man ja von Theologen oft. Wie unterscheidet man das Zeitbedingte vom Zeitlosen?
Söding: Mit einem Lächeln würde ich sagen: Dafür braucht man eben Exegese. Die Bibel ist insgesamt zu hundert Prozent zeitbedingt. Sie ist Gotteswort im Menschenwort. Sie ist zu hundert Prozent Menschenwort und in diesem Menschenwort zu hundert Prozent Gotteswort. Wenn es um ethische Fragen geht, kommt noch erschwerend hinzu, dass das Neue Testament sich immer mit den realen Lebensverhältnissen zu beschäftigen hat: zum Beispiel mit dem Umstand, dass es Sklaverei gibt oder dass traditionelle Geschlechterbilder existieren. Darauf beziehen sich die Autoren des Neuen Testaments, die Kinder ihrer Zeit sind. Wenn man über Geltungsfragen redet, besteht das Problem darin, dass man nicht den historisch bedingten Kontext, in dem die biblische Ethik profiliert wird, unter der Hand mitdogmatisiert. Das ist vielfach geschehen. Wie kann diese Gefahr vermieden werden? Erstens: Indem man auch sozialgeschichtlich Exegese treibt und fragt: Wer redet eigentlich unter welchen Bedingungen zu wem? Und zweitens: Indem man die Argumentationskonsistenz genau betrachtet. Ein Beispiel: Wenn Paulus sagt: "Bei uns ist es Brauch, dass eine Frau einen Schleier im Gottesdienst trägt" heißt das: Es ist Brauch. In anderen kulturellen Kontexten gibt es also andere Schlussfolgerungen. So kann man sehr viele der ethischen Weisungen, Erzählungen und Bilder, von denen die Bibel so reich ist, durchmustern und zu einer Hierarchie der Wahrheiten kommen.
"Die fundamentalen ekklesiologischen Begriffe des Neuen Testaments sind sozusagen demokratieaffin."
Leven: Es ist also eine Frage der Auslegung. Nun haben in anderen Zeiten die Leute auch die Bibel ausgelegt. Über Thomas von Aquin schreiben Sie zum Beispiel: "Als Kind seiner Zeit hat Thomas die Monarchie als die beste Staatsform angesehen". Achthundert Jahre später schreibt ein anderer Thomas, nämlich Thomas Söding, in seinem Buch: "Anders, als es über Jahrhunderte schien, ist weder die Monarchie noch die Oligarchie, sondern die Demokratie das politische Leitbild der Kirche, die am Evangelium Maß nimmt." Da würde ich jetzt gerne wissen: Wie können Sie sich da so sicher sein? Vielleicht ist dieses Urteil ja auch zeitbedingt?
Söding: Mit Sicherheit. Und ich wage nicht zu hoffen, dass irgendjemand in 800 Jahren noch über das nachdenken wird, was ich da zu Papier gebracht habe. Thomas von Aquin hat übrigens nicht das Hohelied der Monarchie gesungen, sondern hat eine Abwägung vorgenommen, wie man sie auch bei Aristoteles finden kann, und ist zu einem bestimmten Schluss gekommen. Als Exeget kann ich sagen: Die fundamentalen ekklesiologischen Begriffe des Neuen Testaments sind sozusagen demokratieaffin: Das Volk Gottes, die Ekklesia, der Leib Christi, das sind alles genuin politische Metaphern. Der mit der urchristlichen Missionsbewegung verbundene Verheißungsanspruch war, dass es zu einer Inspiration der Vielen kommt. Damit kommt eine neue Entwicklung ins Spiel, sodass der Aufbruch, der in der Neuzeit stattgefunden hat, nicht unabhängig von den Impulsen des Christentums zu verstehen ist, auch wenn die katholische Hierarchie sich lange gegen die Demokratie gewendet hat.
Über die AfD predigen?
Leven: Zuletzt wurde über die Silvesterpredigt eines bayrischen Pfarrers diskutiert. Der hatte AfD-Chefin Alice Weidel und "viele andere" dafür kritisiert, den Anschlag von Magdeburg für Stimmungsmache gegen Ausländer zu instrumentalisieren und soll gesagt haben: "So werden sie auf ihre Weise zu Verbrechern, zu Verbrechern an unserer Gesellschaft". Ein Gottesdienstbesucher soll ihn daraufhin wegen "Volksverhetzung und übler Nachrede" angezeigt haben. Das wirft die alte Frage auf: Wie politisch dürfen Predigten sein? Was würden Sie sagen, Herr Professor Söding?
Söding: Als schlichter Gottesdienstbesucher freue ich mich zunächst einmal, wenn in der Predigt das Wort Gottes ausgelegt wird, wenn das Evangelium zur Sprache kommt – im Blick auf heute. Predigten sind öffentliches Wort, und von daher wäre es völlig naiv anzunehmen, dass sie unpolitisch sein könnten. Und die Demokratie braucht Menschen, die sie verteidigen. Da sollte die Kirche in ihrer Positionierung klar sein, nicht zuletzt, weil die Religionsfreiheit, die sie beansprucht, nur in einem demokratischen System auch tatsächlich garantiert werden kann. Beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken haben wir eine Unvereinbarkeitsposition, das ist deswegen wichtig, weil aus dieser Partei heraus immer wieder das christliche Abendland reklamiert und für eine Agenda funktionalisiert wird, die an zentralen Punkten mit der Ethik, die in der katholischen Kirche vertreten wird, nicht übereinstimmt. Da muss man sagen: Organisiert euch, wo ihr wollt, aber nicht bei uns.
"Niemand würde sich doch einem persönlichen Gespräch mit AfD-Vertretern entziehen. Wir reden aber über etwas anderes als über seelsorgliche Kontakte. Wir reden über relevante Öffentlichkeit, über Interpretationskämpfe, die ausgetragen werden."
Leven: Auch die katholischen Bischöfe haben sich in ungewohnter Deutlichkeit von der AfD abgegrenzt. Kritiker dieser Abgrenzung wie der Berliner Dramaturgie-Professor Bernd Stegemann argumentieren mit dem Neuen Testament: Jesus habe sich mit Zöllnern und Sünden getroffen. Müssten sich die Bischöfe da nicht gerade mit AfD-Politikern austauschen?
Söding: Was da von Jesus überliefert wird, sind markante Face-to-Face-Konstellationen. Niemand würde sich doch einem persönlichen Gespräch entziehen. Wir reden aber über etwas anderes als über seelsorgliche Kontakte. Wir reden über relevante Öffentlichkeit, über Interpretationskämpfe, die ausgetragen werden. Wir reden über das Claiming von christlichen Werten für eine Politik der Exklusion und der Rückständigkeit, die zentrale Herausforderungen negiert. Es muss alles dafür getan werden, diese Strategie zu unterlaufen.