Der erste Petrusbrief macht den Christen Mut zu jenem Anderssein, das in ihrer Zugehörigkeit zur Kirche nicht nur begründet, sondern auch gefordert ist. Indem er die Frage der Identität in den Mittelpunkt rückt, hat er somit auch eine besondere und Aktualität und Relevanz für die Kirche heute. Mit der Auslegung des ersten Petrusbriefes setzt Sr. Justina Metzdorf unsere Reihe "Brot in der Wüste – Die Bibel ausgelegt" fort.

"Wir wollen wie alle anderen sein!" (1 Sam 8,20; Ez 20,32) – Die Geschichte Israels, wie sie in den Schriften des Alten Testaments aufgezeichnet und gedeutet ist, erweist sich als eine spannungsvolle Auseinandersetzung mit der eigenen Identität als dem "auserwählten Volk" (Dtn 14,2), dem "besonderen Eigentum" (Ex 19,5) Gottes: Israel gerät immer wieder in tiefe Krisensituationen, in denen es um seine Identität als das auserwählte Volk Gottes ringt, dann, wenn der politische, ökonomische und gesellschaftliche Anpassungsdruck unerträglich zu werden droht, wenn die Lebensweise der Nachbarvölker samt ihren innerweltlichen Göttern übermäßig an Attraktivität gegenüber einem Leben gemäß den Geboten Gottes gewinnt und wenn zugleich das Vertrauen in Gottes Zuwendung und Handeln, aber auch das Bewusstsein der Verantwortung ihm gegenüber verloren gehen. Dann wird der Ruf laut: "Wir wollen wie alle anderen sein!"

Sieht man auf die aktuelle Situation der Kirche, insbesondere der Kirche in Deutschland, die in der Konfrontation mit der säkularen Gesellschaft aufs heftigste in einer Zerreißprobe zwischen Anpassung und Isolation ausgespannt ist, entsteht der Eindruck, es habe sich im Vergleich zu den Themen des Alten Testaments nicht viel geändert. Was hat aber der erste Petrusbrief damit zu tun?

Am Ende des ersten Jahrhunderts – so zumindest lautet in der Forschungsliteratur die mehrheitliche chronologische Einordnung – entsteht der erste Petrusbrief. In der Briefsammlung des Neuen Testaments ist er unter den sogenannten "katholischen Briefen" einsortiert. "Katholisch" heißen diese insgesamt sieben Briefe deshalb, weil sie nicht wie die Briefe des Apostels Paulus an eine bestimmte Ortskirche oder an eine Einzelperson gerichtet sind, sondern – der griechischen Bedeutung von "katholos" entsprechend – an einen "umfassenden" Adressatenkreis in einem mehr oder weniger großen geografischen Raum. Neben diesem "ersten" Petrusbrief gibt es im Neuen Testament auch einen zweiten; dieser nimmt zwar formal auf den ersten Bezug, unterscheidet sich aber ansonsten in ganz vielen Hinsichten so stark vom ersten, dass in der Forschung kaum jemand ernsthaft annimmt, beide Briefe könnten vom selben Autor verfasst sein.

Brückenschlag zur alttestamentlichen Verheißung

Obgleich der erste Petrusbrief sich sehr wahrscheinlich an Christen wendet, die aus dem Heidentum kommen, schöpft dieser Brief seine Aussagen über die Identität der Christen ganz wesentlich aus den Texten des Alten Testaments. Er versteht die Kirche in Kontinuität und Neuschöpfung als "Volk Gottes" (1 Petr 2,10) und beschreibt sie mit den alttestamentlichen Wesensmerkmalen des Gottesvolks: "Ihr aber seid ein auserwähltes Geschlecht, eine königliche Priesterschaft, ein heiliger Stamm, ein Volk, das sein besonderes Eigentum wurde, damit ihr die großen Taten dessen verkündet, der euch aus der Finsternis in sein wunderbares Licht gerufen hat." (1 Petr 2,9)

Der Brief knüpft damit an das Selbstverständnis der ältesten überlieferten christlichen Schriften an. Für die Autoren jenes Teils der Heiligen Schrift, den wir als Neues Testament bezeichnen, besteht kein Bruch in der Geschichte der Offenbarung Gottes. Vielmehr finden sie sowohl die alttestamentliche Verheißung an das "auswählte Volk" als auch den Auftrag, der an seine Existenz als Gottes "besonderes Eigentum" gebunden ist, in der Kirche vollgültig fortgesetzt. Deshalb bedeutet die Selbstbezeichnung der Kirche als das "Israel Gottes" (Gal 6,16) aus christlicher Sicht keine illegitime Aneignung von etwas, das ihr nicht zusteht. Diese Haltung zeigt sich zum Beispiel auch darin, dass der Schriftgelehrte, Pharisäer und Apostel Paulus die Tatsache, dass nicht ganz Israel das Heil in Christus angenommen und sich so der vollen Offenbarung Gottes verschlossen hat, als einen kaum zu ertragenden Schmerz empfindet, den er vor allem im Brief an die Gemeinde in Rom theologisch zu verstehen und existenziell zu bewältigen sucht (vgl. Röm 9-11).

Mit seinem Thema der Klärung und Bestärkung der eigenen Identität hat der erste Petrusbrief eine ganz besondere und durchaus brisante Aktualität und Gegenwartsrelevanz für die Kirche von heute.

Im ersten Petrusbrief geht es ganz wesentlich um die Frage nach der Identität der Kirche: Was heißt es für die Christen, dass sie ein "auserwähltes Geschlecht", Gottes "besonderes Eigentum" sind? Der Brief behandelt dieses Thema nicht in erster Linie im Hinblick auf die Glaubensinhalte – Auseinandersetzungen mit Irrlehrern spielen gar keine Rolle –, sondern im Blick auf den gelebten Glauben. Der erste Petrusbrief gibt eine Antwort auf die Frage: Was bedeutet es, Christ zu sein? Was bedeutet es, Glied des Volkes Gottes zu sein? Deshalb setzt er sich mit den Konsequenzen auseinander, die das Erwählungsbewusstsein der Kirche, das Wissen um ihr Geschaffensein durch Gott und um die existenzielle Zugehörigkeit zu ihm, für die innere Haltung wie für die konkrete Lebensgestaltung der Christen haben, die in einer gottfremden, gottfernen und explizit feindlich gesinnten Umwelt um die eigene Identität ringen.

Der erste Petrusbrief macht den Christen Mut zu jenem Anderssein, das in ihrer Zugehörigkeit zur Kirche nicht nur begründet, sondern auch gefordert ist: Er unterstützt sie darin, "sich nicht im Strom der Leidenschaften mittreiben zu lassen" (1 Petr 4,4); er mahnt sie, in ihrem Denken und im Umgang miteinander und gegenüber ihrer Umwelt nicht dem Anpassungsdruck der gesellschaftlichen Gepflogenheiten zu erliegen; er bemüht sich, die christliche Hoffnung sprachfähig zu machen und leitet dazu an, über den eigenen Glauben zu sprechen, "jedem Rede und Antwort zu stehen" (1 Petr 3,15); und er bietet vor allem eine theologische Reflexion und spirituelle Bewältigung des Leids und des Leidens an, das die Christen erfahren müssen, weil sie Christen sind. Mit diesem Thema der Klärung und Bestärkung der eigenen Identität hat der erste Petrusbrief eine ganz besondere und durchaus brisante Aktualität und Gegenwartsrelevanz für die Kirche von heute.

Ermutigung zu einem bewusst christlichen Leben

Die folgende Auslegungsreihe zum ersten Petrusbrief zielt darauf, die historische Situation der damaligen Adressaten und das Anliegen seines Verfassers zu erläutern und dabei zugleich die Frage im Blick zu behalten, welche Bedeutung dieser Brief für das Christsein in unserer Zeit hat, welche Impulse für das Selbstverständnis und den Auftrag der Kirche in unserer Welt gewonnen werden können. Die Besinnung auf die Identität der Kirche als Gottes "besonderes Eigentum" in allen Dimensionen, die der erste Petrusbrief anspricht, könnte durchaus hilfreich sein sowohl angesichts des gegenwärtig überlaut zu vernehmenden Rufs: "Wir wollen sein wie die anderen!", aber auch angesichts jeder Form von traditionalistischer Abkapselung und Verteufelung der säkularen Umwelt. Der erste Petrusbrief lässt sich als eine Ermutigung zu einem bewusst christlichen Leben unter schwierigen Bedingungen, als Zuspruch zur entschiedenen Nachfolge Jesu lesen: "damit ihr seinen Spuren folgt." (1 Petr 2,21)

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