Am Beginn des umfangreicheren Abschnitts 1 Petr 2,13–3,12 hatte der erste Petrusbrief das Verhältnis der Christen zum Staat in den Blick genommen; es folgen nun Ausführungen über die Ordnung in den Bereichen des sozialen Zusammenlebens. Im Blick auf seine literarische Gattung handelt es sich bei diesem Abschnitt um eine sogenannte "Haustafel". Das Neue Testament und auch einige frühe außerbiblische Schriften, die Didache und der Barnabasbrief, überliefern solche Zusammenstellungen sozialer Pflichten, die die Ordnung in der christlichen Hausgemeinschaft und das Verhältnis der Christen zu ihrer Umwelt regeln (vgl. u.a. Eph 5,22-6,9; 1 Tim 2,8-15).
Die Haustafel lässt sich als ein erster Versuch der Entwicklung einer christlichen Moraltheologie verstehen; als soziale Pflichtenlehre ist sie keine christliche Erfindung, sondern war bereits in der antiken Ethik verbreitet. Ein Beispiel für die natürliche Ethik findet sich bei dem stoischen Philosophen Epiktet (50-138 n.Chr.), einem Zeitgenossen des Verfassers des Petrusbriefs; in der von seinem Schüler Arrian aufgezeichneten Sammlung seiner Vorträge und Gespräche, den sogenannten Diatriben, heißt es:
"Ziel der Philosophie (Ethik) ist, dass er (der Schüler) mit den anderen Menschen die von Natur und Menschen auferlegten Gebote wahre, die da gelten für Sohn, Vater, Bruder, Bürger, Mann und Frau, Nachbar und Reisgefährten, die Regierenden und Regierten." (diatr. 2,14,8)
Zur neutestamentlichen Haustafel gehört dann aber, im Unterschied zu ihrem heidnischen Vorbild, eine tiefe theologische Begründung der Pflichten, was sehr gut in 1 Petr 2,18-25 zu erkennen ist.
Unerhörte Veränderung des antiken Menschenbildes
In den Versen 1 Petr 2,18-25 geht es um die Pflichten von christlichen Sklaven. Ein Blick auf die neutestamentlichen Haustafeln insgesamt zeigt, dass gerade die Sklavenpflichten auffallend ausführlich besprochen werden. Das mag damit zusammenhängen, dass der christliche Glaube eine unerhörte Veränderung in das antike Menschenbild brachte und es zu einem extremen Missverhältnis zwischen der in staatsrechtlicher Hinsicht andauernden persönlichen Unfreiheit eines Sklaven und seiner vollen Gleichberechtigung innerhalb der christlichen Gemeinde kam. Für die Christen war das ein heikler Punkt, weil hier die Zugehörigkeit der Christen zur antiken Gesellschaft mit ihren Gepflogenheiten und rechtlichen Bestimmungen auf das neue christliche Menschenbild prallte, das Paulus in Gal 3,28 formuliert: "Es gibt nicht mehr (…) Sklaven und Freie, (…) denn ihr alle seid einer in Christus."
Und in der antiken Gesellschaft gab es eben doch weiterhin Sklaven und Freie. Von den Christen wurde einiges abverlangt, wenn sie sich in ihrer Haltung und ihrem Verhalten entschieden von dem abgrenzen wollten, was in ihrem gesellschaftlichen Umfeld das Übliche war. Der Umgang mit den Sklaven war für die frühe Kirche sicher ein Prüfstein, ob sie die geistliche Kraft entfesseln konnte, um wirklich "Kontrastgesellschaft" (G. Lohfink) zu sein.
In den Briefen des Neuen Testaments werden die Besitzer von Sklaven immer wieder dazu aufgefordert, ihren Sklaven Gerechtigkeit zukommen zu lassen und ihnen mit der christlichen Bruderliebe zu begegnen. Begründet wird diese Forderung mit dem Hinweis, dass alle Christen, unabhängig von ihrem rechtlichen oder sozialen Stand und Status, "im Himmel denselben Herrn" haben, "bei dem es kein Ansehen der Person gibt" (Eph 6,9). Paulus, der dem christlichen Sklavenbesitzer Philemon seinen geflohenen Sklaven Onesimus zurückschickt, legt diesem ans Herz: "Du erhältst ihn für ewig zurück, nicht mehr als Sklaven, sondern als weit mehr: als geliebten Bruder. Das ist er jedenfalls für mich, um wie viel mehr dann für dich, als Mensch und auch vor dem Herrn" (Phlm 15).
Kein Unterschied mehr zwischen Sklaven und Freien
Auf der anderen Seite werden die Sklaven ermahnt, in ihrem Stand zu bleiben (vgl. Eph 6,5-8; Kol 3,22-25).
Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist eine Entscheidung der Einheitsübersetzung von 2016 zu 1 Kor 7,21, da hier die Übersetzung der Vorgängerversion revidiert und an die Lutherbibel und einige andere deutsche Übersetzungen angepasst wurde. 1980 las die Einheitsübersetzung noch: "Wenn du als Sklave berufen wurdest, soll das dich nicht bedrücken; auch wenn du frei werden kannst, lebe lieber als Sklave weiter." 2016 klingt dieser Vers so: "(…) aber wenn du frei werden kannst, mach lieber Gebrauch davon." Die Elberfelder Bibel (2006) gibt immerhin den Hinweis, dass der griechische Text schwierig ist und beide Optionen zulässt. Ein Blick auf den Kontext – der Abschnitt beginnt in 1 Kor 7,17: "Im Übrigen soll jeder so leben, wie der Herr es ihm zugemessen, wie Gottes Ruf ihn getroffen hat." – könnte bei der Frage nach der Aussageabsicht des Apostels hilfreich sein.
Die Sklaverei ist unvereinbar mit der Gottebenbildlichkeit des Menschen, und darum sind für Gregor Sklavenhalter Menschen, die gegen die göttliche Ordnung verstoßen. In diesem Punkt sucht der christliche Glaube gestaltenden Einfluss auf die Zivilgesellschaft und ist keineswegs auf Abschottung oder die Abgrenzung einer Sonderwelt bedacht.
Aus der theologischen Einsicht, dass es keinen Unterschied zwischen Sklaven und Freien vor Gott und deshalb auch in der Kirche gibt, bricht erst mit Gregor von Nyssa († nach 394) ausdrücklich die Forderung durch, dass daraus die soziale und rechtliche Gleichheit aller Menschen mit Notwendigkeit folgen müsse. Die Sklaverei, so argumentiert Gregor, sei unvereinbar mit der Gottebenbildlichkeit des Menschen, und darum sind für ihn Sklavenhalter Menschen, die gegen die göttliche Ordnung verstoßen, die sich ja – wie wir bereits gesehen hatten – auch in der (guten) staatlichen Ordnung widerspiegelt (vgl. in eccl. hom. 4, PG 44, 664ff). In diesem Punkt sucht der christliche Glaube gestaltenden Einfluss auf die Zivilgesellschaft und ist keineswegs auf Abschottung oder die Abgrenzung einer Sonderwelt bedacht.
Der Abschnitt über die Sklaven im ersten Petrusbrief beginnt mit der Mahnung an die Sklaven: "Ihr Sklaven, ordnet euch in aller Ehrfurcht euren Herren unter, nicht nur den guten und freundlichen, sondern auch den launenhaften!" (1 Petr 2,18) In diesem Vers tritt zunächst die harte Realität des Lebens als Sklave vor Augen: Oft waren Sklaven "launenhaften" Besitzern ausgeliefert und deren unberechenbarer Willkür preisgegeben. Die von den Sklaven geforderte "Ehrfurcht" ihren Herren gegenüber muss unbedingt im Kontext der Verwendung dieses Begriffs im ersten Petrusbrief gelesen werden. Wir hatten bei der Interpretation von 1 Petr 2,17 bereits gesehen, dass der entsprechende griechische Begriff, phobos, eine Haltung bezeichnet, die allein Gott entgegengebracht wird und keinem Menschen, nicht einmal dem Kaiser (vgl. ebf. 1 Petr 1,17; 3,2).
Dienst an Gott
Das heißt, wir haben hier eine Parallele zur Forderung des christlichen Verhaltens gegenüber der staatlichen Ordnung; im Tiefsten geht es bei dem Respekt gegenüber einem Menschen also um die Gottesfurcht. Deshalb – der Gedanke ist sicher nicht ganz leicht nachzuvollziehen – ist der Dienst des Sklaven im Innersten Dienst vor Gott. Genau und nur aus diesem Grund soll die Unterordnung des Sklaven unter seinen menschlichen Herrn nicht abhängig sein von dessen Verhalten, Charakter oder sonstigen menschlichen Gegebenheiten. Die Ausrichtung des christlichen Sklaven auf Gott, und zwar von der Mitte seiner Person, vom Gewissen her, wird dann im nächsten Vers als Begründung angeführt: "Denn es ist eine Gnade, wenn jemand deswegen Kränkungen erträgt und zu Unrecht leidet, weil er sich in seinem Gewissen nach Gott richtet." (1 Petr 2,19)
In dieser Aussage steckt ein wichtiges Detail des christlichen Menschenbilds; man kann hier nämlich erkennen, dass die Christen den Sklaven Rechtsfähigkeit als Personen zuerkennen. Dass einem Sklaven Unrecht widerfahren kann, wie es hier formuliert ist, steht im direkten Widerspruch zum antiken Recht, nach dem der Sklave als Eigentum seines Besitzers von diesem kein Unrecht erleiden kann. Aristoteles schreibt dazu in der Nikomachischen Ethik: "Es gibt keine Ungerechtigkeit in Bezug auf das, was schlechthin unser eigen ist" (NE V 10,8). "Recht", sagt Aristoteles, "kann es nur für Personen geben, die (…) sich gleich stehen" (ebd.). In den christlichen Haustafeln dagegen werden die Sklaven nicht als "Sache" behandelt, sondern angesprochen und zu ethischem Handeln aufgefordert. Hier wird ganz konkret erfahrbar, wie revolutionär das christliche Menschenbild für die antike Gesellschaft war.
In Vers 20 scheint etwas von den alltäglichen Erfahrungen der Sklaven durch:
"Ist es vielleicht etwas Besonderes, wenn ihr wegen einer Verfehlung Schläge erduldet? Wenn ihr aber recht handelt und trotzdem Leiden erduldet, das ist eine Gnade in den Augen Gottes." (1 Petr 2,20)
Christliches Ethos ist Nachfolge Christi
Gegenübergestellt sind die Begriffe "etwas Besonderes" – wörtlich "Ruhm" – und "Gnade". Im Hintergrund dürfte der von Paulus stark gemachte Gedanke stehen, dass ein Mensch, gleichgültig welche Leistung er zu vollbringen fähig ist, sich damit vor Gott nicht rühmen kann, weil alles, was der Mensch zu tun oder zu leiden vermag, Gabe Gottes ist (vgl. Röm 4,2; 1 Kor 1,31; 2 Kor 10,17). Damit leitet der Brief über zur theologischen Begründung der an die Sklaven gerichteten ethischen Forderungen: "Dazu seid ihr berufen worden; denn auch Christus hat für euch gelitten und euch ein Beispiel gegeben, damit ihr seinen Spuren folgt." (1 Petr 2,21)
Das Leiden der Sklaven, das der antiken Gesellschaft völlig gleichgültig war, verbindet der erste Petrusbrief mit dem bedeutendsten Ereignis der gesamten Weltgeschichte: mit dem Leiden des "Retters der Welt" (Joh 4,42), Christus. Christliches Ethos – das wird hier deutlich – ist Nachfolge Christi; es ist weder natürlich begründet noch rational beweisbar. In welcher Weise das Leiden Jesu das Muster beziehungsweise die "Fußspur" ist, in die nicht nur die Sklaven, sondern alle Christen eintreten, zeigen die anschließenden Verse 22-25, in denen der Brief dann eine eindrucksvolle Passionstheologie entwickelt.