Christliche Tugenden"... damit ihr seinen Spuren folgt": Der erste Petrusbrief

Nachdem das Augenmerk zunächst auf jene Gruppen innerhalb der christlichen Gemeinde gerichtet war, die in einer besonders schwierigen und oft bedrückenden Lage waren, nämlich die Sklaven und die Frauen, geht es im Schlussteil der Haustafel nun um "alle": Es steht also das Verhalten der ganzen christlichen Gemeinde im Blick.

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"Endlich aber: Seid alle eines Sinnes, voll Mitgefühl und Liebe zueinander, seid barmherzig und demütig!" (1 Petr 3,8)

Mit diesem Vers leitet der Petrusbrief den Schlussteil der Haustafel ein. Nachdem das Augenmerk zunächst auf jene beiden Menschengruppen innerhalb der christlichen Gemeinde gerichtet war, die von ihrem gesellschaftlichen Status her in einer besonders schwierigen und oft bedrückenden Lage waren, nämlich die Sklaven und die Frauen, geht es im Schlussteil der Haustafel nun um "alle". Es steht also das Verhalten der ganzen christlichen Gemeinde im Blick.

Fünf Tugenden

Vers 8 zählt dabei fünf Tugendbegriffe auf; zwei von ihnen, nämlich "eines Sinnes sein" (homophron) und "mitfühlend sein" (sympathes), sind Werte, die auch in ethischen Konzepten der nicht-christlichen, hellenistischen Umwelt vorkommen. In der platonischen Philosophie und der aristotelischen Ethik wird der Gedanke, dass Menschen dieselben ethischen Werte und Ziele teilen, als wesentliche Grundlage für eine gerechte Gesellschaft betrachtet. Die "Sympathie" gehört dagegen mehr in die stoische Philosophie und beschreibt die Haltung der gegenseitigen Verbundenheit, mit der die Menschen ihre kosmopolitische Zusammengehörigkeit zum Ausdruck bringen. Auch in der epikureischen Ethik begegnet die "Sympathie" als begründendes Element der als Freundschaft begriffenen Gemeinschaft der Anhänger Epikurs.

Beide Begriffe übernimmt der Petrusbrief, ergänzt die hellenistischen gemeinschaftsbildenden Tugenden aber noch mit drei weiteren, die exklusiv biblisch-christlichen Ursprungs sind: "die Brüder (und Schwestern) lieben" (philadelphos), "barmherzig sein" (eusplagchnos) und "demütig gesinnt sein" (tapeinophron). Diese drei Tugenden verbinden die christliche Gemeinde mit Jesus selbst. Die "Liebe" zu den Brüdern und Schwestern ist nach dem Wort Jesu in Joh 13,34f nicht nur der Auftrag an seine Jünger, sondern auch das entscheidende Erkennungszeichen ihrer Zugehörigkeit zu ihm:

"Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt."

Jesu Liebe zu den Seinen ist der Maßstab und gibt die konkrete Gestalt der christlichen geschwisterlichen Liebe vor. Paulus greift die johanneische Liebestheologie auf: "Ihr seid von Gott gelehrt, einander zu lieben" (1 Thess 4,9). Und der Hebräerbrief schärft es den Christen gleich am Beginn einer Liste mit ethischen Mahnungen ein: "Die Bruderliebe (philadelphia) soll bleiben!" (Hebr 13,1) Von Jesus und seinem Liebesgebot her erhält dann auch die aus der philosophischen Tradition übernommene Tugend des "Mitfühlens" ihre spezifische Prägung; das "Mitfühlen", die Empathie bleibt nicht im diffusen Gefühl einer allgemeinen Verbundenheit verhaftet, sondern führt zur Entdeckung von Christus selbst im christlichen Bruder und der christlichen Schwester, letztlich sogar in jedem Menschen (vgl. Mt 25,40; Lk 10,33).

Barmherzigkeit im Zentrum

Ebenso geht die Tugend der Barmherzigkeit auf Jesus zurück. Insbesondere die synoptischen Evangelien betonen die Barmherzigkeit Jesu als seine hervorstechende Haltung. Vielfach wird von Begegnungen erzählt, die damit beginnen, dass Jesus sich aus Mitleid und Erbarmen den Menschen zuwendet (vgl. u.a. Mk 6,34; Mt 14,14; Lk 7,13). Auch in seinem eigenen Gottesbild nimmt die Barmherzigkeit als Eigenschaft Gottes einen hervorragenden Platz ein; das zeigen drei seiner Gleichnisse, in denen die Barmherzigkeit Gottes ganz im Mittelpunkt steht: das Gleichnis vom barmherzigen Vater (Lk 15,11-32), das Gleichnis vom barmherzigen Samaritaner (Lk 10,25-37) und das Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23-35).

Und in der lukanischen Fassung der Bergpredigt betont Jesus diese Seite des alttestamentlichen Gottesbilds, wie sie Psalm 103 hervorhebt: "Der Herr ist barmherzig und gnädig, langmütig und reich an Huld," (Ps 103,8), wobei er seine Jünger auffordert: "Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!" (Lk 6,36) Beide Tugenden, die Liebe, "die aus Gott ist" (1 Joh 4,7) und die Barmherzigkeit, die der erste Petrusbrief von den Christen verlangt, sind von ihrem Ursprung her "göttliche" Tugenden. Schließlich steht am Ende der Reihe die Haltung der "demütigen Gesinnung". Die hellenistische Antike kannte den Begriff der "demütigen Gesinnung" (tapeinophrosyne, tapeinophron) überhaupt nicht, und das Eigenschaftswort "demütig" (tapeinos) war ganz und gar negativ besetzt. Der Gebrauch dieses Wortes war meist mit Verachtung und Geringschätzung verbunden; "Demut" stand im krassen Gegensatz zum Ideal des antiken Menschenbilds (vgl. Herodot, hist. VII 10). Allerdings hielt der Wortstamm "tapein*" Einzug in die griechische Übersetzung des Alten Testaments – und steht dort anstelle verschiedener hebräischer Begriffe, die eine positive Bedeutung haben.

Neuentdeckung der Demut

Im AT – die meisten der nicht sehr zahlreichen Belege finden sich in den Psalmen und im Buch der Sprichwörter (z.B. Ps 25,9; 34,2; Spr 15,33; 18,12; 22,4; Jes 57,15; Zef 2,3) – beginnt sozusagen bereits die neue "Karriere" der Demut, die, vermittelt über Jesus und seinen sogenannten "Heilandsruf" in Mt 11,29, zu einem Hauptbegriff der christlichen Ethik wird: "Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig (tapeinos); und ihr werdet Ruhe finden für eure Seele." Im Philipperbrief gebraucht Paulus diesen Begriff als verbale Aussage, um nichts weniger als das Zentrum des christlichen Glaubens, die Menschwerdung Gottes, zu beschreiben:

"Christus Jesus war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, Gott gleich zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich (etapeinosen) und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz." (Phil 2,6-8)

Unmittelbar vor diesem Christushymnus fordert Paulus die demütige Gesinnung als Haltung der Christen im Umgang untereinander ein (vgl. Phil 2,3): Sie ist die Gesinnung, "die dem Leben in Christus Jesus entspricht" (Phil 2,4). Und sie steht im Kontrast zu den Idealvorstellungen vom freien und selbstbestimmten Menschen, wie sie die heidnische Umwelt der Christen am Ende des ersten Jahrhunderts propagiert. Der erste Petrusbrief konkretisiert die genannten Tugenden auf ihre Anwendung im alltäglichen Leben:

"Vergeltet Böses nicht mit Bösem oder Schmähung mit Schmähung! Im Gegenteil: Segnet, denn dazu seid ihr berufen worden, dass ihr Segen erbt." (1 Petr 3,9)

Feindesliebe angesichts alltäglicher Demütigungen

Ganz deutlich klingt Jesu Gebot der Feindesliebe an: "Liebt eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen! Segnet die, die euch verfluchen; betet für die, die euch beschimpfen!" (Lk 6,27f) Der erste Petrusbrief bezieht sich aber nicht nur auf das Wort Jesu, sondern vor allem auch auf sein Vorbild, das – wie in einem früheren Beitrag bereits besprochen wurde – in 1 Petr 2,23 zur Begründung der christlichen Ethik herangezogen wird: "Als er geschmäht wurde, schmähte er nicht." Für die Adressaten des Petrusbriefs ist die Situation der Schmähung und Diffamierung alltägliche Realität, aber sie klingt auch schon in früheren Briefen des Neuen Testaments an. Paulus mahnt im Römerbrief: "Segnet eure Verfolger; segnet sie, verflucht sie nicht!" (Röm 12,4), und im ersten Thessalonicherbrief: "Seht zu, dass keiner dem andern Böses mit Bösem vergilt, sondern bemüht euch immer, einander und allen Gutes zu tun!" (1 Thess 5,15)

Nach 1 Petr 3,9 sind alle Christen dazu berufen zu segnen. Ungewöhnlich scheint dabei die Formulierung: "Ihr seid dazu berufen worden, dass ihr Segen erbt." Aus dem Alten Testament, dort vor allem in den Patriarchenerzählungen, kommt die Vorstellung, dass Segen durch Erbe vermittelt wird, etwa in der Erzählung vom "Segensdiebstahl" des Jakob (Gen 27), von der Segnung der Kinder Josefs, Ephraim und Manasse (vgl. Gen 48), und vom Segen über die zwölf Stämme Israels (vgl. Gen 49). Hinter dem "Erbe" steht der Gedanke des Geschenks und des Unverdienten: Der Segen, den die Christen weitergeben an Freund und Feind, ist etwas, das sie selbst empfangen haben. Wer beschenkt ist, muss weiterschenken. Hier kommt noch einmal aus einer anderen Perspektive der Gedanke, der schon an anderer Stelle im ersten Petrusbrief begegnet ist (vgl. den Beitrag zu 1 Petr 2,9): Die Zuwendung Gottes zu den Glaubenden, seine Gnade, ist nichts Exklusives, das aus der Kirche eine "geschlossene Gesellschaft" macht, sondern Gott erwählt Menschen, um durch sie die ganze Menschheit zu erreichen.

Leben als "Segenserbe"

Der Abschnitt 1 Petr 3,8-12 schließt mit einem längeren Zitat aus Psalm 34, mit dem die vorausgehenden Mahnungen noch einmal begründet werden:

"Es heißt nämlich: Wer das Leben liebt und gute Tage zu sehen wünscht, der bewahre seine Zunge vor Bösem und seine Lippen vor falscher Rede. Er meide das Böse und tue das Gute; er suche Frieden und jage ihm nach. Denn die Augen des Herrn blicken auf die Gerechten und seine Ohren hören ihr Flehen; das Antlitz des Herrn aber richtet sich gegen die Bösen." (1 Petr 3,10-12)

Das "Leben" und die "guten Tage" sind das "Segenserbe", von dem in Vers 9 die Rede war; der Psalm wird hier sicherlich eschatologisch gelesen, also von der Verheißung des ewigen Lebens her. Die Hoffnung auf diese Verheißung wachzuhalten und zu stärken, ist ein besonderes Anliegen des Briefes, denn der Alltag der Christen war, wie in den folgenden Abschnitten deutlich zum Ausdruck kommt, geprägt und gezeichnet von schweren Bedrängnissen bis hin zur Verfolgung.

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